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Die EU-Kommission hat Deutschland wegen Nichtumsetzung der fatalen EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung verklagt (Az. C-329/12). Ich veröffentliche hier erstmals die Klageerwiderung der Bundesregierung vom 24.09.2012 im Volltext.

Zusammenfassend geht daraus folgendes hervor:

  • Erstens ist überraschend, dass sich Bundesjustizministerium und Bundesinnenministerium offenbar darauf geeinigt haben, das Verfahren dem Bundeswirtschaftsministerium zu überlassen. Dies ist schade, denn eigentlich ist das Bundesjustizministerium zuständig, das einen deutlich bürgerrechtsfreundlicheren Standpunkt hat.
  • Das Bundeswirtschaftsministerium äußert sich nicht dazu, ob es die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für grundrechtswidrig hält.
  • Jedoch erläutert es ziemlich ausführlich, weshalb die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung ihren Zweck – die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen – verfehlt. Dieser Umstand könnte im Parallelverfahren Digital Rights Ireland (Az. C-293/12) zur Ungültigerklärung der Richtlinie führen. Deutschland muss in diesem Fall natürlich auch kein Zwangsgeld mehr zahlen.
  • Die Bundesregierung weist darauf hin, dass im Bereich der Bestandsdaten (Name, Anschrift) weiterhin eine Vorratsdatenspeicherung erfolgt (§ 95 TKG). Meine Verfassungsbeschwerde dagegen ist erfolglos geblieben. Jedoch wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte noch über meine Beschwerde gegen die Zwangsidentifikation von Prepaidkunden entscheiden.
  • Die Bundesregierung argumentiert nicht ungeschickt, dass die Voraussetzungen der Verhängung eines Zwangsgeldes nicht vorlägen. Hilfweise verlangt sie eine Herabsetzung und Aufschiebung des Zwangsgeldes.
  • Die Bundesregierung teilt erstmals mit, wann und unter welchen Voraussetzungen sie zur Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung bereit ist: Die Bundesregierung werde einen Gesetzentwurf zur Umsetzung in das parlamentarische Verfahren einbringen, falls Deutschland zur Zahlung eines Zwangsgelds verurteilt wird und falls sich die Richtlinie im Vorlageverfahren Digital Rights Ireland als gültig erweisen sollte. Es ist äußerst erfreulich, dass die Bundesregierung den Ausgang dieses Verfahrens abwarten will, auch wenn zwischenzeitlich Zahlungen zu leisten sind. Ich erwarte, dass die Richtlinie im Vorlageverfahren Digital Rights Ireland wegen Unvereinbarkeit mit unseren Grundrechten gekippt wird.

Die Klageerwiderung im Volltext

[…]
[…]
[…]
Bevollmächtigte der Regierung
der Bundesrepublik Deutschland
im Beistand von Rechtsanwalt […]

Berlin, den 24. September 2012

Zustellungsanschrift: […]
Bundesministerium für
Wirtschaft und Technologie
Scharnhorststraße 34 – 37
D-10115 Berlin
Fax-Nr.: […]

Zustellungen per eCuria

Gerichtshof der
Europäischen Union
– Kanzlei –
L- 2925 Luxemburg

Per eCuria

Klagebeantwortung

In der Rechtssache C-329/12
Kommission
gegen
Bundesrepublik Deutschland

beantragt die Bundesregierung,

  1. die Klageanträge abzuweisen,
  2. hilfsweise die Höhe des beantragten Zwangsgeldes angemessen anzupassen;
  3. hilfsweise den Beginn der Zahlungsverpflichtung sechs Monate nach Verkündung des Urteils festzulegen;
  4. die Kosten des Verfahrens der Kommission aufzuerlegen.

Ferner wird angeregt,

das hiesige Verfahren zeitlich nach dem Verfahren in der Rs. C-293/12, Digital Rights Ireland, zu entscheiden.

Inhaltsverzeichnis  

I. Einleitung …………………………………………………………………………………………………………4

II. Zum Sachverhalt ………………………………………………………………………………………………5

1. Erlass und Mitteilung der erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen in den Jahren 2007 und 2008 ………………………………………………………………………………………………5

2. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010 …………………………….5

3. Fortbestehende Umsetzungsvorschriften nach dem Urteil des BVerfG …………………6

III. Abweisung des Zwangsgeldantrages …………………………………………………………………..8

1. Keine Anwendung des Art. 260 Abs. 2 AEUV ……………………………………………………8

2. Keine Anwendung des Art. 260 Abs. 3 AEUV ……………………………………………………9

a) Unanwendbarkeit ratione materiae ……………………………………………………………10

(a) Wortlaut des Art. 260 Abs. 3 AEUV ……………………………………………………….10

(b) Entstehungsgeschichte und Ziel des Art. 260 Abs. 3 AEUV ……………………..11

(c) Regelungskontext des Art. 260 Abs. 3 AEUV …………………………………………12

(d) Verpflichtung zur Rücksichtnahme (Art. 4 EUV) ………………………………………13

b) Unanwendbarkeit ratione temporis ……………………………………………………………14

(a) Wortlaut des Art. 260 Abs. 3 AEUV ……………………………………………………….15

(b) Regelungskontext und Entstehungsgeschichte ……………………………………….16

(c) Sinn und Zweck unter Berücksichtigung des Art. 4 EUV …………………………..18

IV. Vorsorglich: Anpassung des Zwangsgeldantrages ………………………………………………20

1. Hilfsweise: Anpassung des Zwangsgeldes der Höhe nach ………………………………..20

a) Fehlerhafte Festsetzung des „Schwerekoeffizienten“ …………………………………..20

b) Fehlerhafte Festsetzung des „Dauerkoeffizienten“ ………………………………………22

2. Hilfsweise: Zahlungsverpflichtung sechs Monate nach der Urteilsverkündung ……..23

V. Entscheidung erst nach der Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen Digital Rights Ireland (C-293/12) ……………………………………………………………………….24

I. Einleitung

1. Die Bundesregierung beantragt Klageabweisung. Mit ihrer Klage auf Verhängung eines Zwangsgeldes hat die Kommission die ihr in Art. 260 Abs. 3 AEUV übertragene Befugnis in mehrfacher Hinsicht überschritten. Finanzsanktionen, die nicht allein der Durchsetzung eines vorangegangen Urteils des Gerichtshofes dienen (Art. 260 Abs. 2 AEUV), sind aus gutem Grunde auf Verstöße beschränkt worden, „Maßnahmen zur Umsetzung einer gemäß einem Gesetzgebungsverfahren erlassenen Richtlinie mitzuteilen“ (Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV). Ohne ein vorangegangenes Feststellungsurteil des Gerichtshofes können Sanktionen folglich nicht verhängt werden, wenn – wie hier – bereits erlassene Umsetzungsmaßnahmen ordnungsgemäß mitgeteilt aber von einem nationalen Gericht im Nachhinein für teilweise unwirksam oder unanwendbar erklärt wurden. Erst recht ist Art. 260 Abs. 3 AEUV unanwendbar, wenn es – wie hier – um eine Richtlinie geht, die nicht gemäß einem „Gesetzgebungsverfahren“ nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009, sondern lange zuvor, nämlich am 15. März 2006, erlassen wurde.

2. Selbst wenn Art. 260 Abs. 3 AEUV hier anwendbar sein sollte (quod non), bedürfte es jedenfalls einer substantiellen Anpassung des Zwangsgeldes an die Besonderheiten des vorliegenden Sachverhaltes. Sowohl zur Höhe der Sanktionen (315.036,54 € pro Tag) als auch zu deren Inkrafttreten (Tag der Urteilsverkündung) ist der Kommissionsvorschlag verfehlt. Insbesondere verkennt die Kommission, dass Art. 260 Abs. 3 AEUV nur eine pflichtwidrige Untätigkeit der Gesetzgebungsorgane erfasst – weshalb ein angemessener Zeitraum nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010 bei der Ermittlung der Sanktionshöhe nicht berücksichtigt werden darf – und den Mitgliedstaaten gemäß Unterabs. 2 noch eine letzte Frist gewährt werden sollte, um die festgestellten Umsetzungsmaßnahmen zu ergreifen.

3. Die Bundesregierung weist schließlich darauf hin, dass ihr – zeitgleich mit der vorliegenden Klage – ein Vorabentscheidungsersuchen des Irish High Court zur Gültigkeit der Richtlinie 2006/24/EG (nachfolgend: „Richtlinie“) übermittelt wurde (Rs. C-293/12, Digital Rights Ireland). Sollte der Gerichtshof in dieser Rechtssache die Richtlinie oder ihre hier relevanten Vorschriften für ungültig erklären, könnte die Bundesrepublik Deutschland im Vertragsverletzungsverfahren nicht verurteilt werden. Die Klage der Kommission müsste in diesem Fall abgewiesen werden. Aus diesem Grunde regt die Bundesregierung an, das vorliegende Klageverfahren zeitlich nach dem Vorabentscheidungsersuchen Digital Rights Ireland, Rs. C-293/12, zu entscheiden.

II. Zum Sachverhalt  

4. Zu dem von der Kommission dargestellten Sachverhalt möchte die Bundesregierung folgendes anmerken.

1. Erlass und Mitteilung der erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen in den Jahren 2007 und 2008

5. Die Bundesregierung möchte betonen, dass die Bundesrepublik Deutschland mit dem Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen vom 21. Dezember 2007 umfassende Regelungen zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG erlassen hat. Das Umsetzungsgesetz wurde zum 1. Januar 2008 in Kraft gesetzt.[BGBl. 2007 I S. 3198. ] Zwischen der Kommission und der Bundesregierung ist nicht streitig, dass dieses Gesetz eine Umsetzung der Richtlinie zum Inhalt hatte.

6. Insbesondere ist die Bundesrepublik Deutschland auch ihrer Verpflichtung nachgekommen, der Kommission das Inkraftsetzen dieser Rechtsvorschriften mitzuteilen (Art. 15 der Richtlinie). Auf dem Wege des von ihr zu diesem Zweck eingerichteten elektronischen Notifizierungssystems wurde die Kommission (Generalsekretariat) am 9. Januar 2008 davon in Kenntnis gesetzt, dass die Bundesrepublik Deutschland die Richtlinie umgesetzt hat. Mit derselben Mitteilung unter der Referenznummer MNE (2008)50149 wurden der Kommission die Umsetzungsvorschriften übermittelt. Auch dies ist zwischen der Kommission und der Bundesregierung nicht streitig.

2. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010

7. Mit Urteil vom 2. März 2010 beanstandete das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bestimmte Vorschriften des am 21. Dezember 2007 erlassenen Umsetzungsgesetzes. Dieser Ausspruch wurde gem. § 31 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG)[§ 31 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht lautet: „Soweit ein Gesetz als mit dem Grundgesetz … unvereinbar oder für nichtig erklärt wird, ist die Entscheidungsformel … im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen.“ ] am 17. März 2010 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht.[BGBl. 2010 I S. 272. ]

8. Das BVerfG führte aus, dass eine sechsmonatige anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten für qualifizierte Verwendungen im Rahmen der Strafverfolgung, der Gefahrenabwehr und der Aufgaben der Nachrichtendienste mit Art. 10 GG „nicht schlechthin unvereinbar“ sei. „Strikt verboten“ sei allein die Speicherung von personenbezogenen Daten auf Vorrat zu unbestimmten und noch nicht bestimmbaren Zwecken.[Absatz-Nr. 205 und 206 des Urteils vom 2. März 2010. ]

9. Ausführlich betonte das BVerfG indes, dass es sich bei einem solchen Instrument um einen ungewöhnlich schwerwiegenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Bürger handele. Zu den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Vorgaben zur Datensicherheit, zum Umfang der Datenverwendung, zur Transparenz und zum Rechtsschutz verweist die Bundesregierung auf ihre Mitteilung vom 15. August 2011.[Anlage 4 zur Klageschrift der Kommission, S. 7-11.]

3. Fortbestehende Umsetzungsvorschriften nach dem Urteil des BVerfG

10. Zwischen der Kommission und der Bundesregierung ist nicht streitig, dass zahlreiche Vorschriften, die die Bundesrepublik Deutschland zur Umsetzung der Richtlinie erlassen hat, nach wie vor in Kraft sind. Es handelt sich um Bestimmungen, die die in Art. 1, 2, 4, 5 bis 7, 9 und 13 der Richtlinie enthaltenen Vorgaben umsetzen, soweit es darin um die Speicherung von Bestandsdaten der Teilnehmer oder registrierten Benutzern und deren Weitergabe für die Zwecke der Strafverfolgung geht. Diese Vorschriften werden von den betroffenen Unternehmen und den zuständigen Behörden auch angewendet. Insoweit zutreffend spricht die Kommission von einer „Teilumsetzung“ der Richtlinie (Randnr. 25 der Klage).

11. Bei den weiterhin in Kraft befindlichen Umsetzungsvorschriften geht es namentlich um die folgenden Bestimmungen:

– Weiterhin anwendbar sind die Umsetzungsvorschriften zu Art. 5 Abs. 1 Buchst. a Nr. 1 Ziff. ii und Art. 5 Abs. 1 Buchst. b Nr. 1 Ziff. ii der Richtlinie (§ 111 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Telekommunikationsgesetzes). Hiernach ist sichergestellt, dass betreffend Telefonfestnetz und Mobilfunk die Namen und Anschriften der Teilnehmer oder registrierten Benutzer gespeichert werden.

– Weiterhin umgesetzt ist ferner die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. a Nr. 2 Ziff. iii der Richtlinie enthaltene Vorgabe, soweit diese bestimmt, dass betreffend Internetzugang, Internet-E-Mails und Internet-Telefonie der Name und die Anschrift des Teilnehmers beziehungsweise registrierten Benutzers gespeichert werden, dem eine Benutzerkennung oder Rufnummer zum Zeitpunkt der Nachricht zugewiesen war (§ 111 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 4 des Telekommunikationsgesetzes).

– Umgesetzt bleibt auch die Vorgabe aus Art. 5 Abs. 1 Buchst. b Nr. 2 Ziff. ii, soweit darin bestimmt ist, dass betreffend Internet-E-Mail und Internet-Telefonie die Namen und Anschriften der Teilnehmer oder registrierten Benutzer gespeichert werden (§ 111 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Satz 3 des Telekommunikationsgesetzes).

– Weiterhin umgesetzt bleiben ferner die Anforderungen aus Art. 4 der Richtlinie. Danach haben die Mitgliedstaaten u.a. sicherzustellen, dass die gespeicherten Bestandsdaten nur in bestimmten Fällen und in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht an die zuständigen nationalen Behörden weitergegeben werden. Diese Vorgaben werden durch § 113 des Telekommunikationsgesetzes i.V.m. §§ 161, 163 der Strafprozessordnung umgesetzt.

– Uneingeschränkt umgesetzt sind ferner die Vorgaben aus Art. 9 der Richtlinie und Teile der Vorgaben aus Art. 7 und 13 der Richtlinie. Nach Art. 9 der Richtlinie ist u.a. vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten eine oder mehrere öffentliche Stellen benennen, die für die Kontrolle der Anwendung der zur Umsetzung von Art. 7 der Richtlinie erlassenen Vorschriften bzgl. der Sicherheit der gespeicherten Daten zuständig ist/sind. Diese Vorgaben werden durch § 115 i.V.m. § 109 des Telekommunikationsgesetzes umgesetzt, wonach die Bundesnetzagentur mit der Anwendung und Überwachung dieser Vorgaben betraut ist.

– Weiterhin in Kraft sind ferner die Umsetzungsvorschriften zu Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a bis d der Richtlinie, die Begriffsbestimmungen enthalten.

Die Einzelheiten und der Wortlaut der innerstaatlichen Umsetzungsvorschriften ergeben sich aus der Mitteilung der Bundesregierung vom 15. August 2011.[Anlage 4 zur Klageschrift der Kommission, S. 2-6. ]

III. Abweisung des Zwangsgeldantrages

12. Der Antrag auf Verhängung eines Zwangsgeldes ist nicht statthaft. Die Kommission kann ihren Antrag weder auf das reguläre Sanktionsverfahren des Art. 260 Abs. 2 AEUV stützen (dazu unter 1.) noch kann sie auf den spezifischen Sanktionsmechanismus aus Art. 260 Abs. 3 AEUV zurückgreifen (dazu unter 2.).

1. Keine Anwendung des Art. 260 Abs. 2 AEUV

13. Nach Art. 260 Abs. 2 AEUV kann die Kommission die Verhängung eines Zwangsgeldes beantragen, sofern der betreffende Mitgliedstaat die Maßnahmen, die sich aus einem vorangegangenen Vertragsverletzungsurteil des Gerichtshofes ergeben, nicht getroffen hat.

14. Die Kommission kann den vorliegenden Antrag schon deshalb nicht auf Art. 260 Abs. 2 AEUV stützen, weil die Bundesrepublik Deutschland wegen Verletzung der Richtlinie 2006/24/EG bislang nicht verurteilt worden ist. In diesem Zusammenhang erlaubt sich die Bundesregierung den Hinweis, dass die Kommission in der Vergangenheit mehrere Mitgliedstaaten wegen Nichtumsetzung (oder teilweiser Nichtumsetzung) dieser Richtlinie verklagt hat, ohne dies mit einem Antrag auf Finanzsanktionen zu verbinden.[Klage vom 28. Mai 2009 in der Rs. C-189/09, Kommission/Republik Österreich (ABl. 2009 C 246, S. 8); Klage vom 28. Mai 2009 in der Rs. C-192/09, Kommission/Königreich der Niederlande (ABl. 2009 C 180, S. 34); Klage vom 5. Mai 2009 in der Rs. C-202/09, Kommission/Irland (ABl. 2009 C 167, S. 7); Klage vom 11. Juni 2009 in der Rs. C-211/09, Kommission/Griechenland (ABl. 2009 C 193, S. 13). ]

15. Besonders bemerkenswert ist dies, weil die Kommission noch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon – und damit auch des Art. 260 Abs. 3 AEUV – einen Mitgliedstaat wegen Nichtumsetzung dieser Richtlinie verklagt hat, ohne dies mit einem Antrag auf Finanzsanktionen zu verknüpfen. Mit Klage vom 4. August 2010 hat die Kommission die Feststellung beantragt, dass dieser Mitgliedstaat „dadurch gegen seine Verpflichtung aus Art. 15 der Richtlinie 2006/24/EG (…) verstoßen hat, dass er nicht alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen, erlassen oder diese Vorschriften jedenfalls nicht mitgeteilt hat.“[Klage vom 4. August 2010 in der Rs. C-394/10, Kommission/Großherzogtum Luxemburg (ABl. 2010 C 274, S. 17). ] Ein Zwangsgeld oder einen Pauschalbetrag hat die Kommission in diesem Verfahren – anders als in der vorliegenden Rechtssache – nicht beantragt.

16. In einem anderen Verfahren hat die Kommission am 31. Mai 2011 ein Zwangsgeld gem. Art. 260 Abs. 2 AEUV beantragt, weil dieser Mitgliedstaat die Richtlinie trotz eines vorangegangen Urteils noch immer nicht umgesetzt habe.[Klage vom 31. Mai 2011 in der Rs. C-270/11, Kommission/Königreich Schweden (ABl. 2011 C 226, S. 17).] Dies bedeutet, dass gegen diesen Mitgliedstaat erst nach beinahe vier Jahren ein Zwangsgeld beantragt wurde, obwohl er nach Auffassung der Kommission keinerlei Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie ergriffen hat.

2. Keine Anwendung des Art. 260 Abs. 3 AEUV

17. Nach Art. 260 Abs. 3 AEUV kann die Kommission eine nach Art. 258 AEUV erhobene Klage mit einem Antrag auf Zahlung eines Pauschalbetrages oder eines Zwangsgeldes verbinden, wenn sie der Auffassung ist, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtung verstoßen hat, Maßnahmen zur Umsetzung einer gemäß einem Gesetzgebungsverfahren erlassenen Richtlinie mitzuteilen.

18. Aus zwei Gründen kann sich die Kommission auf diese Vorschrift nicht berufen:

19. Nach seinem Wortlaut, seinem Zweck, seiner Entstehungsgeschichte und seinem Kontext ist Art. 260 Abs. 3 AEUV auf Fälle beschränkt, in denen ein Mitgliedstaat gänzlich untätig geblieben ist, es also versäumt hat, binnen der dafür vorgesehenen Frist Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie zu erlassen und diese mitzuteilen. Die vorliegende Konstellation ist jedoch dadurch gekennzeichnet, dass die Bundesrepublik Deutschland bereits Umsetzungsmaßnahmen erlassen und diese der Kommission gemäß der Richtlinie mitgeteilt hat. Auf einen solchen Fall, in dem ein Mitgliedstaat bestimmte (und von ihm mitgeteilte) Umsetzungsvorschriften im Nachhinein nicht mehr anwendet oder nicht mehr anwenden darf, ist Art. 260 Abs. 3 AEUV nicht übertragbar (dazu unter a.)).

20. Art. 260 Abs. 3 AEUV findet ausschließlich auf solche Richtlinien Anwendung, die in einem Gesetzgebungsverfahren nach dem Lissabon-Vertrag, d.h. seit dem 1. Dezember 2009 erlassen wurden. Auf Richtlinien, die wie die Richtlinie 2006/24/EG im Mitentscheidungsverfahren des Art. 251 EG und unter der Prämisse des zweistufigen Sanktionsregimes (Art. 228 Abs. 2 EG) erlassen wurden, kann Art. 260 Abs. 3 AEUV nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Zweck nicht angewendet werden (dazu unter b.)).

a) Unanwendbarkeit ratione materiae  

(a) Wortlaut des Art. 260 Abs. 3 AEUV

21. Schon aus dem Wortlaut des Art. 260 Abs. 3 AEUV ergibt sich, dass diese Sanktionsvorschrift auf einen klar definierten Rechtsverstoß beschränkt ist: Es geht um einen Verstoß gegen die Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaates, „Maßnahmen zur Umsetzung einer … Richtlinie mitzuteilen“ (Unterabs. 1 Satz 1). Diese Formulierung knüpft demnach an der in Richtlinien enthaltenen Verpflichtung an, der Kommission die Rechts- und Verwaltungsvorschriften mitzuteilen, die zur fristgerechten Umsetzung einer Richtlinie notwendig sind. Nach seinem klaren Wortlaut begründet Art. 260 Abs. 3 AEUV also nicht etwa eine allgemeine Finanzsanktion für Verletzungen der materiellen Vorschriften einer Richtlinie. Anknüpfungspunkt ist vielmehr der Verstoß, der darin begründet liegt, dass der Kommission bis zum Ablauf der in der Richtlinie gesetzten Frist keine Umsetzungsvorschriften notifiziert worden sind.

22. Eine solche Verpflichtung sieht Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie vor. Hiernach waren die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Rechts- und Verwaltungsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie bis zum 15. September 2007 in Kraft zu setzen und die Kommission davon unverzüglich in Kenntnis zu setzen. Es handelt sich bei dieser Notifizierungsverpflichtung um eine förmliche und einmalige Verpflichtung, der Kommission die in Kraft gesetzten Umsetzungsvorschriften mitzuteilen. Weitergehende und permanente Mitteilungspflichten, die z.B. an nachträglichen innerstaatlichen Anwendungsproblemen oder an innerstaatlichen Gerichtsurteilen zu den Umsetzungsvorschriften anknüpfen, mögen aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) resultieren. Art. 260 Abs. 3 AEUV knüpft indes nicht an solchen allgemeinen Informationsverpflichtungen an, sondern einzig und allein an der formalen und einmaligen Pflicht, der Kommission das Inkraftsetzen der Umsetzungsvorschriften zu notifizieren. Dieser Verpflichtung ist Deutschland, wie dargelegt, am 8. Januar 2008 gerecht geworden, als es der Kommission das Inkraftsetzen des erlassenen Umsetzungsgesetzes mitgeteilt hat (s.o. Randnr. 6).

(b) Entstehungsgeschichte und Ziel des Art. 260 Abs. 3 AEUV

23. Entstehungsgeschichte und Ziel des Art. 260 Abs. 3 AEUV bestätigen diese Sichtweise. Mit dieser Vorschrift sollte nicht etwa eine allgemeine Sanktion für alle möglichen Defizite bei der Umsetzung und Anwendung von Richtlinien begründet werden; sie ist vielmehr auf ein ganz spezifisches Ziel zugeschnitten, nämlich die rasche Reaktion auf die Nichtmitteilung von Umsetzungsvorschriften zum Ablauf der in der Richtlinie gesetzten Frist.

24. Art. 260 Abs. 3 AEUV geht auf den Schlussbericht des Arbeitskreises über die Arbeitsweise des Gerichtshofes des Europäischen Konvents vom 25. März 2003 zurück. In dem Übermittlungsvermerk des Präsidiums vom 2. Mai 2003 betreffend die Vorschriften über den Gerichtshof und das Gericht wurde der seinerzeitige Vorschlag wie folgt begründet:

„Dieser Vorschlag zielt darauf ab, der Kommission die Möglichkeit zu geben, den Gerichtshof gleichzeitig (in ein und demselben Verfahren) mit einer Klage wegen Vertragsverletzung nach Artikel 226 EGV und einem Antrag auf Verhängung einer Sanktion zu befassen. Verhängt der Gerichtshof auf Antrag der Kommission im Urteil auch eine Sanktion, so würde diese nach einer gewissen Frist ab Verkündung des Urteils gültig, falls der beklagte Staat dem Urteil nicht nachgekommen ist. Eine Mehrheit der Mitglieder des Arbeitskreises hat diesen Vorschlag befürwortet. Eine solche Bestimmung würde das Verfahren für Sanktionen bei Nichtmitteilung von einzelstaatlichen Umsetzungsmaßnahmen erheblich erleichtern und beschleunigen*. Das Präsidium hat beschlossen, dieser Empfehlung des Arbeitskreises zu folgen.

* In der Praxis unterscheidet man diese Fälle der Nichtmitteilung (in denen der betreffende Mitgliedstaat keine Umsetzungsmaßnahme getroffen hat) von den Fällen der nicht ordnungsgemäßen Umsetzung (in denen die von dem betreffenden Mitgliedstaat getroffenen Maßnahmen nach Auffassung der Kommission der Richtlinie (oder dem Rahmengesetz) nicht entsprechen). Die vorgeschlagene Bestimmung würde nicht für den zweiten Fall gelten.“[CONV 734/03 vom 2. Mai 2003, S. 16. ]

25. Der Anwendungsbereich des Art. 260 Abs. 3 AEUV und sein Zweck gehen aus dieser Begründung klar hervor. Art. 260 Abs. 3 AEUV ist auf den einfach gelagerten und typischen Fall beschränkt, in dem ein Mitgliedstaat mangels Umsetzungsmaßnahme seiner Mitteilungsverpflichtung aus der Richtlinie nicht nachgekommen ist. Es geht um die Beschleunigung des – normalerweise „zweistufigen“ – Sanktionsverfahrens in dem spezifischen Fall, dass „der betreffende Mitgliedstaat keine Umsetzungsmaßnahme getroffen hat“. Die rein formale Anknüpfung an die Nichtmitteilung ist deshalb kein Redaktionsversehen, sondern zwingend: In Ermangelung eines vorangegangenen Urteils sollen Sanktionen nur in dem Fall verhängt werden, in denen der Mitgliedstaat nach dem Ablauf der in der Richtlinie gesetzten Frist gänzlich untätig geblieben ist und deshalb keinerlei Umsetzungsmaßnahmen notifizieren konnte.[Pal Wenneras, Sanctions against Member States under Article 260 TFEU: Alive but not kicking?, in: Common Market Law Review 49 (2012), p. 145 (166): „It may be observed at the outset that Article 260(3) TFEU is restricted to what has been the problem in practice, namely late transposition of legislative directives“.]

26. Der vorliegende Sachverhalt liegt anders. Die Bundesrepublik Deutschland hatte Ende 2007 Umsetzungsmaßnahmen erlassen und in Kraft gesetzt. Diese wurden der Kommission unverzüglich mitgeteilt. In Erfüllung ihrer Verpflichtung aus Art. 4 Abs. 3 EUV hat die Bundesregierung die Kommission später davon unterrichtet, dass das BVerfG im Jahre 2010 bestimmte Vorschriften dieser Umsetzungsmaßnahmen beanstandet und für nichtig erklärt hat (Randnr. 8 der Klage). Zugleich hat die Bundesregierung die weiterhin anwendbaren Umsetzungsvorschriften benannt und auf die besonderen Schwierigkeiten hingewiesen, die aus der gleichzeitigen Erfüllung der Grundrechte und der Richtlinie resultieren. Weder vom Wortlaut noch nach seiner Entstehungsgeschichte ist diese Konstellation von Art. 260 Abs. 3 AEUV erfasst. Möchte die Kommission in solchen Fällen eine Finanzsanktion beantragen, muss sie auf das reguläre Verfahren nach Art. 260 Abs. 2 AEUV zurückgreifen.

(c) Regelungskontext des Art. 260 Abs. 3 AEUV

27. Der systematische Kontext des Art. 260 Abs. 3 AEUV spricht ebenfalls dagegen, diese Vorschrift auf die vorliegende Konstellation anzuwenden.

28. Art. 260 Abs. 3 AEUV ist eine Ausnahme zu dem Grundsatz, dass Finanzsanktionen nur zur Durchsetzung eines vorangegangenen Urteils des Gerichtshofes verhängt werden dürfen (Art. 260 Abs. 2 AEUV). In einer Union des Rechts sind finanzielle Sanktionen gegen ihre Mitgliedstaaten das schärfste und äußerste Mittel zur Durchsetzung ihrer Verpflichtungen. Sie dürfen nur in klaren und für die Mitgliedstaaten eindeutig vorhersehbaren Fällen zum Tragen kommen. Art. 260 Abs. 3 AEUV eignet sich (auch) aus diesem Grunde nicht für eine weite Auslegung. Sein Anwendungsbereich wäre uferlos, wenn – wie hier – inhaltliche Verstöße gegen eine Richtlinie, zu denen es Jahre nach ihrer Umsetzung noch kommen kann, sogleich mit Sanktionen belegt werden könnten. Konstellationen, in denen sich im Nachhinein (also nach Mitteilung der Umsetzungsvorschriften) herausstellt, dass es an geeigneten Verwaltungsvorschriften zur Anwendung der Umsetzungsgesetze fehlt, wären sonst ebenso erfasst wie zum Beispiel Fälle, in denen ein Gericht eine Umsetzungsvorschrift vorläufig außer Kraft setzt.

29. Nochmals verschärft wird dieses Sanktionsinstrument, wenn man der Auffassung der Kommission folgen würde, wonach es statthaft ist, Finanzsanktionen erstmals im letzten Stadium eines Vertragsverletzungsverfahrens, nämlich in der Klageschrift zu benennen.[Sowohl in ihrer Mitteilung zur Anwendung von Art. 260 Abs. 3 AEUV (ABl. 2011 C 12, S. 1, Randnr. 31) als auch im vorliegenden Verfahren geht die Kommission von der – durchaus fraglichen – Prämisse aus, dass Sanktionen sogar dann beantragt werden dürfen, wenn diese im Aufforderungschreiben (Art. 258 Unterabs. 1, Halbsatz 2 AEUV) und in der begründeten Stellungnahme (Art. 258 Unterabs. 1, Halbsatz 1 AEUV) noch nicht benannt worden sind.] Obwohl er seiner aus der Richtlinie folgenden Mitteilungspflicht zuvor nachgekommen ist, könnte ein Mitgliedstaat dann mit Sanktionen konfrontiert werden, auf die er nicht reagieren konnte. Denkbar ist zum Beispiel, dass die Kommission Zwangsgelder oder Pauschalbeträge wegen Umsetzungsdefiziten beantragt, die aus einer sich später ergebenden Teilaufhebung nationaler Vorschriften resultieren. Auch dies spricht dafür, Art. 260 Abs. 3 AEUV strikt auf jene Konstellation zu beschränken, für die er geschaffen wurde: Auf Fälle, in denen der betreffende Mitgliedstaat keine Umsetzungsvorschriften erlassen hat und folglich seiner aus der Richtlinie folgenden Mitteilungspflicht nicht nachgekommen ist.

(d) Verpflichtung zur Rücksichtnahme (Art. 4 EUV)

30. Hinzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt. Die Einführung des Art. 260 Abs. 3 AEUV wurde – auch im Konvent – mit der Begründung kritisiert, dass die Umsetzung einer Richtlinie häufig verfassungsrechtliche Fragen aufwirft; die notwendigen verfassungsrechtlichen Klärungen dürften nicht unter gleichzeitiger Androhung von Finanzsanktionen erfolgen.[In diesem Sinne etwa der Streichungsvorschlag von Joschka Fischer, Anlage zum Übermittlungsvermerk des Sekretariats an den Konvent  über die Änderungsvorschläge betreffend Teil III Titel VI: Gerichtshof, CONV 796/03 zu Art III-263: „Absatz 3 ist zu streichen. Wenn in ein- und demselben Verfahren die Vertragsverletzung und das Zwangsgeld festgelegt werden können, so birgt dies angesichts der nötigen parlamentarischen Verfahren insbesondere in föderalen Staaten die Gefahr, dass trotz redlichen Bemühens um Abhilfe ein Mitgliedstaat hohe finanzielle Sanktionen zahlen muss.“ Ferner Ulrich Everling, Rechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, Europarecht (EuR), Beiheft 1, S. 71 (82 f.): „[Art. 260 Abs. 3 AEUV] kann nur bei einer überlegten und abgewogenen Anwendung zu einer sachgerechten Lösung führen, die dem Ziel, eine zügige und korrekte Umsetzung der Richtlinien zu erreichen, dient. … Die Mitgliedstaaten sind weiter Verfassungsstaaten, die häufig innerstaatlichen Zwängen unterliegen und nur beschränkt handlungsfähig sind. … Strafen wegen hoheitlichen Handelns gegen Mitgliedstaaten … stellen schwerwiegende Eingriffe in ihre Identität dar. … Deshalb ist die vorgesehene Verstärkung durch den Vertrag von Lissabon fragwürdig.“ ] In der Tat ist eine restriktive Anwendung des Art. 260 Abs. 3 AEUV geboten, wenn eine Richtlinie schwierige und umstrittene Verfassungsfragen auslöst – sei es, weil Kompetenzkonflikte zu lösen sind, sei es, weil ihre Umsetzung grund- oder datenschutzrechtlichen Bedenken unterliegt. Die nach Art. 4 EUV gebotene Rücksichtnahme auf die verfassungsrechtlichen Strukturen der Mitgliedstaaten gebietet dann eine zurückhaltende Interpretation des Art. 260 Abs. 3 AEUV.[Jürgen Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 260 AEUV Randnr. 20: „Angesichts des beschleunigten Charakters dieses Verfahrens sollten die Kommission und der Gerichtshof mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Instrumentarium allerdings besonders maßvoll umgehen. Andernfalls würde der erforderliche Spielraum der Mitgliedstaaten zu einem unionsrechtskonformen Verhalten über Gebühr eingeschränkt, wenn sie ihren Blick zu sehr auf das Damoklesschwert unmittelbarer finanzieller Nachteile richten müssten.“ Ähnlich Ulrich Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Kommentar zu Art. 260 AEUV (Stand: August 2011), Randr 58: „Allerdings ist sicherlich eine zurückhaltende Interpretation dieser Ermächtigung im Lichte des Art. 4 EUV angezeigt, insbesondere wenn sich die Nichtumsetzung einer Richtlinie aus den grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen des Mitgliedstaates erklärt, etwa aus der verfassungsgerichtlichen Überprüfung eines Umsetzungsgesetzes oder aus schwierigen verfassungsrechtlichen und aus dem Demokratieprinzip resultierenden Vorklärungen.“]

31. Die Gefahr, dass sich die Kommission bei der Anwendung des Art. 260 Abs. 3 AEUV über das Gebot der Rücksichtnahme hinwegsetzt, manifestiert sich in der vorliegenden Streitigkeit: Der Kommission war und ist bekannt, dass diese Richtlinie zu ungewöhnlich vielen Urteilen nationaler Verfassungsgerichte geführt hat, in denen die Umsetzungsvorschriften aufgehoben wurden.[Bewertungsbericht der Kommission vom 18. April 2011, KOM(2011) 225 endg., S. 24-25.]  Auch das BVerfG hat sehr hohe Hürden für die Neugestaltung der Vorratsdatenspeicherung errichtet (s.o. Randnr. 9 f.).

32. In einem solchen Falle, in dem eine Richtlinie schwierige verfassungsrechtliche Probleme in vielen Mitgliedstaaten auslöst, erscheint es unangemessen und mit den in Art. 4 EUV niedergelegten Grundsätzen kaum vereinbar, sogleich auf das schärfste Instrument zur Durchsetzung des Unionsrechts, nämlich auf Art. 260 Abs. 3 AEUV zurückzugreifen.

33. Besonders bedenklich ist es, wenn – wie hier – Sanktionen zur Umsetzung einer Richtlinie verhängt werden sollen, über deren Gültigkeit der EuGH noch entscheiden wird.

b) Unanwendbarkeit ratione temporis

34. Art. 260 Abs. 3 Satz 1 AEUV ist hier auch ratione temporis nicht anwendbar. Diese Vorschrift lässt die Auferlegung eines Zwangsgeldes nur zu, wenn es sich bei dem umzusetzenden Rechtsakt um eine Richtlinie handelt, die gemäß einem „Gesetzgebungsverfahren“ im Sinne des Art. 289 AEUV erlassen wurde, d.h. um eine Richtlinie, die nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 erlassen wurde. Die Richtlinie 2006/24/EG wurde hingegen am 15. März 2006, also mehr als drei Jahre vor Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages, erlassen.

(a) Wortlaut des Art. 260 Abs. 3 AEUV

35. Bereits der Wortlaut des Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV spricht dafür, dass dieser lediglich Richtlinien erfasst, die gemäß einem „Gesetzgebungsverfahren“ im Sinne des Art. 289 AEUV erlassen wurden, mithin Richtlinien, die nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 erlassen wurden.

36. Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV bezieht sich ausdrücklich und allein auf „Maßnahmen zur Umsetzung einer gemäß einem Gesetzgebungsverfahren erlassenen Richtlinie“. Damit ist die Richtlinie, die den Anknüpfungspunkt für Sanktionen bildet, näher qualifiziert. Es reicht gerade nicht aus, dass es sich bei dem umzusetzenden Rechtsakt um (irgend-)eine Richtlinie handelt. Der Vertrag hätte es ansonsten bei der allgemeinen Bezeichnung „Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie“ bewenden lassen können. Stattdessen wird in Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV der Anwendungsbereich für die Auferlegung von Zahlungspflichten für die Mitgliedstaaten auf die Fälle beschränkt, in denen die umzusetzende Richtlinie im „Gesetzgebungsverfahren“ erlassen wurde.

37. Die „Gesetzgebungsverfahren“ sind in Art. 289 Abs. 1 und 2 AEUV legal definiert. Art. 289 Abs. 1 und 2 AEUV verweisen auf das „ordentliche“ Gesetzgebungsverfahren des Art. 294 AEUV sowie das „besondere“ Gesetzgebungsverfahren in den speziellen im AEUV vorgesehenen Fällen.[Vgl. Art. 223 Abs. 2, Art. 226 Abs. 3, Art. 228 Abs. 4, Art. 19 Abs. 1, Art. 21 Abs. 3, Art. 22 Abs. 2, Art. 23 UAbs. 2, Art. 77 Abs. 3, Art. 64 Abs. 3, Art. 81 Abs. 3, Art. 86 Abs. 1 und 4, Art. 87 Abs. 3, Art. 89, Art. 113, Art. 115, Art. 118 UAbs. 2, Art. 126 Abs. 14 UAbs. 2 und 3, Art. 127 Abs. 6, Art. 153 Abs. 2 U-Abs. 3 und 4, Art. 160 UAbs. 1 S. 1, Art. 182 Abs. 4, Art. 192 Abs. 2 UAbs. 1, Art. 203, Art. 308 UAbs. 3 S. 2, Art. 311 UAbs. 3 (UAbs. 4), Art. 312 Abs. 2 AEUV, Art. 333 Abs. 2 und Art. 349 Abs. 1 AEUV. ]

38. Das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“ und das „besondere Gesetzgebungsverfahren“ wurden als eigenständige Kategorien durch den am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon neu eingeführt. Mit der Vorschrift des Art. 289 AEUV korrespondiert keine Vorgängernorm im EGV in der Fassung des Vertrags von Nizza. Vielmehr ist diese Norm mit dem Vertrag von Lissabon gänzlich neu in den AEUV aufgenommen worden. Der EGV enthielt zuvor lediglich verstreut Vorschriften über die nähere Ausgestaltung verschiedener Verfahrensarten wie das Mitentscheidungsverfahren, das Verfahren der Zusammenarbeit und das Verfahren der Anhörung.

39. Mit der Maßgabe, dass es sich um eine gemäß einem Gesetzgebungsverfahren im Sinne des Art. 289 Abs. 1 und 2 AEUV erlassene Richtlinie handeln muss, trifft Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV nun in zeitlicher Hinsicht ausdrücklich eine Anordnung, nämlich dass allein diejenigen Richtlinien einzubeziehen sind, die nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 erlassen wurden. Eine Überleitungsvorschrift, sei es allgemein oder speziell, welche die Anwendbarkeit von Vorschriften für (neue) Richtlinien, die im „Gesetzgebungsverfahren“ gemäß Art. 289 AEUV erlassen wurden, auch auf (alte) Richtlinien erstreckt, fehlt. Angesichts dessen scheiden Richtlinien, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 erlassen wurden, als Anknüpfungspunkt für einen Antrag auf Auferlegung eines Zwangsgeldes aus.

(b) Regelungskontext und Entstehungsgeschichte  

40. Auch der Regelungszusammenhang und die Entstehungsgeschichte des Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV sprechen dafür, dass dieser lediglich Richtlinien erfasst, die nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 gemäß einem „Gesetzgebungsverfahren“ im Sinne des Art. 289 AEUV erlassen wurden.

41. Art. 260 Abs. 3 AEUV übernimmt inhaltlich Art. III-362 Abs. 3 des vom Europäischen Konvent erarbeiteten Vertrages über eine Verfassung für Europa vom 29. Oktober 2004[Vgl. ABl. 2004 C 310, S. 1 ff.] (im Folgenden: Verfassungsvertrag). Art. III-362 Abs. 3 Satz 1 dieses Verfassungsvertrags bestimmte:

„(3) Erhebt die Kommission beim Gerichtshof der Europäischen Union Klage nach Artikel III-360, weil sie der Auffassung ist, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtung verstoßen hat, Maßnahmen zur Umsetzung eines Europäischen Rahmengesetzes mitzuteilen, so kann sie, wenn sie dies für zweckmäßig hält, die Höhe des von dem betreffenden Mitgliedstaat zu zahlenden Pauschalbetrags oder Zwangsgelds benennen, die sie den Umständen nach für angemessen hält.“

42. Die Bezeichnung „Europäisches Rahmengesetz“ wurde durch den Verfassungsvertrag neu eingeführt. Das „Europäische Rahmengesetz“ wurde in Art. I-33 Abs. 1 Unterabs. 3 des Verfassungsvertrags legaldefiniert. Vergleicht man Art. III-362 Abs. 3 Unterabs. 1 des Verfassungsvertrags mit der Formulierung des Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV, zeigt sich, dass die Mitgliedstaaten Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV in zeitlicher Hinsicht noch eindeutiger gefasst haben. Während sich Art. III-362 Abs. 3 Unterabs. 1 des Verfassungsvertrags auf den neu eingeführten Begriff des Rechtsaktes bezog, knüpft Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV noch präziser an einen Rechtsakt an, der nach dem durch den Vertrag von Lissabon eingeführten Verfahren erlassen worden ist.

43. Das detaillierte „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“ des Art. 289 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 294 AEUV ist nicht nur im Hinblick auf die Terminologie („ordentliches Gesetzgebungsverfahren“, „Standpunkt“ et cetera) und den Aufbau (erste, zweite und dritte Lesung) ein Novum, sondern auch inhaltlich neu. Das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“ des Art. 294 AEUV markiert in der Sache einen weiteren Integrationsschritt im europäischen Rechtsetzungsprozess:

– Nach Art. 294 AEUV agiert das Europäische Parlament vollständig als ein dem Rat ebenbürtiger Normgeber, der die Rechtsetzung in gleichem Maße inhaltlich gestalten kann und von dessen Zustimmung die Annahme des Rechtsaktes abhängt. Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren leistet einen wesentlichen Beitrag zur Parlamentarisierung der Rechtsetzung der Europäischen Union. Es stärkt die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments am Rechtsetzungsverfahren und erhöht dadurch die demokratische Legitimation der Rechtsakte der Union.

– Dies kommt beispielsweise darin zum Ausdruck, dass nach der Neuregelung durch den Vertrag von Lissabon der Rat gemäß Art. 294 Abs. 4 und 5 AEUV die erste Lesung auf der Basis des Standpunktes des Europäischen Parlaments durchführt und nicht mehr auf der Grundlage des Kommissionsvorschlags. Gleiches gilt auch für die dritte Lesung durch den Vermittlungsausschuss. Die Beratungen des Vermittlungsausschusses erfolgen gemäß Art. 294 Abs. 10 AEUV ausdrücklich auf der Grundlage der Standpunkte des Europäischen Parlaments und des Rates aus der zweiten Lesung. Ein unter Umständen inzwischen vorliegender geänderter Vorschlag der Kommission ist nach dem nunmehr eindeutigen Wortlaut in der Fassung des Art. 294 Abs. 10 AEUV nicht mehr zwingend formal zu berücksichtigen.

– Gänzlich neu sind zudem die in Art. 294 Abs. 15 AEUV getroffenen Regelungen. Art. 294 Abs. 15 AEUV enthält besondere Bestimmungen für den Fall, dass das ordentliche Gesetzgebungsverfahren nicht auf Vorschlag der Kommission, sondern auf Initiative einer Gruppe von Mitgliedstaaten, auf Empfehlung der Europäischen Zentralbank oder auf Antrag des Gerichtshofes durchgeführt wird.

44. Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren des Art. 294 AEUV ist damit nicht mit dem alten Mitentscheidungsverfahren gemäß Art. 251 EGV identisch. Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren des Art. 294 AEUV ordnet das alte Verfahren der Mitentscheidung gemäß Art. 251 EGV neu und gestaltet es differenziert aus.

(c) Sinn und Zweck unter Berücksichtigung des Art. 4 EUV

45. Nach Auffassung der Bundesregierung sprechen zudem auch Sinn und Zweck des Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV unter Berücksichtigung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) dafür, dass dieser allein Richtlinien erfasst, die nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 gemäß einem „Gesetzgebungsverfahren“ im Sinne des Art. 289 AEUV erlassen wurden.

46. Die Auslegung, dass Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV allein Richtlinien erfasst, die nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 gemäß einem „Gesetzgebungsverfahren“ im Sinne des Art. 289 AEUV erlassen wurden, berücksichtigt hinreichend die praktische Wirksamkeit sowohl dieser Vorschrift als auch der Ziele der umzusetzenden Richtlinien.

47. Zum einen stellt sie den effet utile des Sanktions- und Beugeinstruments als solchen nicht in Frage. In der Sache geht es nämlich lediglich um einen begrenzten Übergangszeitraum und eine beschränkte Anzahl von (noch nicht umgesetzten) Richtlinien.

48. Zum anderen entsteht bei dieser Auslegung auch unter den Gesichtspunkten der Sanktion wegen rechtswidrigen Verhaltens in der Vergangenheit (Pauschalbetrag) und des Zwangs zu rechtmäßigem Verhalten in der Zukunft (Zwangsgeld) keine wirkliche Lücke. Denn die Kommission hat weiterhin die Möglichkeit, gemäß Art. 258 Satz 2 AEUV vor dem Gerichtshof Vertragsverletzungsklage zu erheben und, für den Fall, dass der betroffene Mitgliedstaat dessen Urteil nicht nachkommt, gemäß Art. 260 Abs. 2 Satz 2 AEUV Antrag auf Auferlegung eines Pauschalbetrags und/oder Zwangsgeldes zu stellen. Da die Kommission dieses Vorgehen jahrzehntelang vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon praktiziert hat, lässt sich schwerlich argumentieren, dass die vorübergehende Fortsetzung dieser Praxis die Durchsetzung des Unionsrechts praktisch unmöglich macht. Es besteht daher überhaupt kein Bedürfnis, Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV auf Fälle der Nichtumsetzung vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon erlassener Richtlinien auszudehnen.

49. Im Übrigen streitet nach Auffassung der Bundesregierung auch der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV für die Auslegung, dass Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV allein Richtlinien erfasst, die nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 gemäß einem „Gesetzgebungsverfahren“ im Sinne des Art. 289 AEUV erlassen wurden. Nach diesem Grundsatz achten sich Union und Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der sich aus den Verträgen ergebenden Aufgaben.

50. Gewiss muss ein Mitgliedstaat unter bestimmten Umständen im Wege eines Zwangsgeldes zur Umsetzung angehalten werden können. Als ultima ratio muss eine fortgesetzte Nichtumsetzung schließlich auch mit einem Pauschalbetrag sanktioniert werden können.

51. Es entspricht jedoch dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, dass sich die Beteiligten auf den strengen Sanktionsmechanismus des Art. 260 Abs. 3 AEUV erst einstellen müssen. Richtlinien, die vor dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages erlassen worden sind, wurden noch nicht unter der Prämisse dieses strikten Sanktionsmechanismus verhandelt. Es liegt indes auf der Hand, dass Richtlinien, deren (teilweise) Nichtumsetzung sogleich mit Zwangsgeldern oder Pauschalbeträgen bedroht ist, einen anderen Inhalt haben werden als Richtlinien, die allein dem zweistufigem Sanktionssystem des Art. 260 Abs. 2 AEUV unterliegen: Die im Rat vertretenen Mitgliedstaaten werden insbesondere auf großzügig bemessene Umsetzungsfristen achten; gegebenenfalls werden sie aber auch auf Ausnahmevorschriften beharren – etwa für den Fall, dass es aufgrund von Gerichtsurteilen zu Problemen bei der Umsetzung und Anwendung der Richtlinie kommt.

52. Auch die Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung wurde unter der Prämisse verhandelt, dass die Nichtmitteilung von Umsetzungsvorschriften nicht sogleich Finanzsanktionen zur Folge hat. Sie sieht eine relativ kurz bemessene Umsetzungsfrist von 18 Monaten vor und enthält für den Fall, dass es aus verfassungsrechtlichen Gründen zu Umsetzungsdefiziten kommt, keinerlei Abweichungs- oder Ausnahmebestimmungen. Auch vor diesem Hintergrund erscheint es unangemessen, das Sanktionsverfahren des Art. 260 Abs. 3 AEUV – insoweit rückwirkend – auf diese Richtlinie anzuwenden.

53. Dies gilt besonders, wenn man berücksichtigt, dass die Kommission selbst bislang die gegenteilige Auffassung vertreten hat. Die Kommission hat in ihrer Mitteilung zur Anwendung von Art. 260 Abs. 3 AEUV festgestellt, dass „bei der Nichtumsetzung von nicht in einem Gesetzgebungsverfahren erlassenen Richtlinien ein Rückgriff auf Art. 260 Abs. 3 AEUV nicht möglich“ ist.[Vgl. die Mitteilung der Kommission zur Anwendung von Art. 260 Abs. 3 AEUV, ABl. 2011 C 12, S. 1, Randnr. 18.] Die Kommission konstatierte, dass sie in diesem Fall den Gerichtshof weiterhin zunächst im Verfahren nach Art. 258 AEUV anrufen müsse, auf das im Fall der Nichtumsetzung des Urteils eine zweite Anrufung des Gerichtshofs gemäß Art. 260 Abs. 2 AEUV folge.

IV. Vorsorglich: Anpassung des Zwangsgeldantrages

1. Hilfsweise: Anpassung des Zwangsgeldes der Höhe nach

54. Selbst wenn Art. 260 Abs. 3 AEUV hier anwendbar wäre (quod non), bedürfte es jedenfalls der Anpassung des von der Kommission beantragten Zwangsgeldes. Sowohl den „Schwerekoeffizienten“ als auch den „Dauerfaktor“ hat die Kommission offenkundig fehlerhaft berechnet.

a) Fehlerhafte Festsetzung des „Schwerekoeffizienten“

55. Die Kommission stützt den von ihr vorgeschlagenen „Schwerefaktor 9“ auf zwei Gesichtspunkte. Zum einen entstünden den deutschen Betreibern Wettbewerbsvorteile daraus, dass in Deutschland seit dem Urteil des BVerfG vom 2. März 2010 nur unzureichende Vorgaben für die Speicherung von Daten bestünden (Randnr. 48-51 der Klage). Zweitens beeinträchtige die unzureichende Speicherung von Verkehrsdaten die innere Sicherheit Deutschlands und auch anderer Mitgliedstaaten, da die Sicherheitsbehörden weder zur Verfolgung innerstaatlicher Straftaten noch in grenzüberschreitenden Fällen hierauf zugreifen könnten (Randnr. 47, 52 der Klage).

56. Zum ersten Gesichtspunkt erlaubt sich die Bundesregierung einen Hinweis auf den Bewertungsbericht der Kommission vom 18. April 2011.[KOM(2011) 225 endg.] Die Kommission führt darin im Einzelnen auf, dass die Richtlinie gerade nicht zu einer Angleichung der Wettbewerbsbedingungen geführt habe. Die von der Richtlinie gewährten Spielräume seien vielmehr so unterschiedlich genutzt worden, dass sie ihr Ziel, gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, nicht erreicht habe.[KOM(2011) 225 endg., S. 38.] Zu einer solchen Schlussfolgerung gelangten auch die Artikel-29-Datenschutzgruppe sowie der Europäische Datenschutzbeauftragte.[Bericht 01/2010 der Artikel-29-Datenschutzgruppe vom 13. Juli 2010 über die Erfüllung der nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften über die Vorratsdatenspeicherung von Verkehrsdaten bestehenden Pflichten durch die Telekommunikations-Diensteanbieter und die Internet-Diensteanbieter auf nationaler Ebene, 00068/10/DE; Stellungnahme des Europäischen Datenschutzbeauftragten zum Bewertungsbericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zur Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung, ABl. 2011 C 279/1 vom 23. September 2011.]

57. Ungleiche Wettbewerbsbedingungen resultieren hiernach aus mehreren Faktoren. Dazu gehört, dass (1) zahlreiche Mitgliedstaaten eine Erstattung der Kosten vorsehen, die den Betreibern aus der Datenspeicherung und dem -abruf entstehen, dass (2) manche Mitgliedstaaten die Investitionskosten für Datenspeicherungs- und Abrufsysteme übernehmen, dass (3) der behördliche Zugriff auf gespeicherte Daten in manchen Staaten praktisch kaum, in anderen Mitgliedsländern millionenfach erfolgt und dass (4) sehr unterschiedliche Speicherfristen, Datensicherungs- und Löschungsvorgaben gelten.[KOM(2011) 225 endg., S. 10 bis 33.]

58. Wenn und weil es zutrifft, dass die Wettbewerbsbedingungen der europäischen Betreiber keineswegs angeglichen wurden, können Betreiber aus der teilweisen Umsetzung der Richtlinie auch keine Vorteile gezogen haben. So haben deutsche Anbieter von Telekommunikationsdiensten zum Beispiel die Kosten der ihnen auferlegten Speicherung der in Art. 5 Abs. 1 Buchst. a Nr. 1 Ziff ii, und iii, Buchst. b Nr. 1 Ziff. ii und Buchst. b Nr. 2 Ziff. ii aufgeführten Daten zu tragen, wohingegen in anderen Mitgliedstaaten sämtliche Investitions- und Betriebsausgaben auch für diese Speichervorgänge erstattet werden. Dass die in Deutschland niedergelassenen Betreiber „aufgrund der Säumigkeit der Bundesrepublik Deutschland in einem kostengünstigeren Umfeld als ihrer Wettbewerber“ arbeiten könnten (Randnr. 51 der Klage), trifft hiernach nicht zu.

59. Zum zweiten Gesichtspunkt erlaubt sich die Bundesregierung den Hinweis auf die dazu bereits ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofes. Danach „bezieht sich nämlich die Richtlinie 2006/24 auf Tätigkeiten der Diensteanbieter im Binnenmarkt und enthält keine Regelung der Handlungen staatlicher Stellen zu Strafverfolgungszwecken.“[Vgl. EuGH Rs. C-301/06, Irland/Parlament und Rat, Slg. 2009, I-593 Randnr. 91.]

b) Fehlerhafte Festsetzung des „Dauerkoeffizienten“

60. Der von der Kommission vorgeschlagene „Dauerfaktor 2,6“ ist ebenfalls nicht nachzuvollziehen. Diesen möchte die Kommission daraus ableiten, dass vom 2. März 2010 – dem Datum der Entscheidung des BVerfG – bis zum 31. Mai 2012 – dem Datum der Entscheidung der Kommission, ein Zwangsgeld zu beantragen – 26 Monate vergangen seien. Dies rechtfertige es, einen Dauerfaktor anzusetzen, der nahe dem höchstmöglichen Multiplikator (Dauerfaktor 3) liege (Randnr. 57-59 der Klage).

61. Mit dieser Berechnung verkennt die Kommission wiederum die Ziele des Art. 260 Abs. 3 AEUV. Der darin vorgesehene Sanktionsmechanismus knüpft, wie dargelegt, an der Untätigkeit der zur Umsetzung einer Richtlinie berufenen Organe an; er möchte die Mitgliedstaaten nicht für bestimmte Entscheidungen seiner Gerichte sanktionieren, sondern sieht Zwangsgelder oder Pauschalbeträge für die fruchtlose Versäumung der in einer Richtlinie vorgesehenen Umsetzungs- und Mitteilungsfristen vor. Art. 260 Abs. 3 AEUV knüpft mit anderen Worten am Zeitraum der pflichtwidrigen Untätigkeit des Gesetzgebers an. Es geht nicht darum, jedwedes unionsrechtswidriges Verhalten innerstaatlicher Organe mit Finanzsanktionen zu bedrohen.

62. Es geht deshalb nicht an, zur Berechnung der Höhe der Sanktion den gesamten Zeitraum seit der Verkündung des BVerfG-Urteils am 17. März 2010 einzuberechnen. Dem deutschen Gesetzgeber kann nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass er am Tag der Verkündung des BVerfG-Urteils nicht bereits ein neues Umsetzungsgesetz in Kraft gesetzt hat, das den Anforderungen des Grundgesetzes und der Richtlinie gleichermaßen entsprach. Es entspricht vielmehr guter demokratischer Tradition, dass den Gesetzgebungsorganen zur Umsetzung von Richtlinien oder höchstrichterlichen Urteilen ein angemessener Zeitraum gewährt wird. Ein solcher Zeitraum ist jedenfalls dann großzügig zu bemessen, wenn es – wie hier – um grundlegende Fragen im Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern geht, bei denen nicht nur grund- und datenschutzrechtliche, sondern auch kriminalpolitische und technische Probleme zu lösen sind.

63. Vor diesem Hintergrund dürfte sich von selbst verstehen, dass der Zeitraum der Untätigkeit, den die Kommission dem deutschen Gesetzgeber vorwirft, nicht im März 2010, sondern erst zu einem weitaus späteren Zeitpunkt beginnen konnte. Der Dauerfaktor ist deshalb, sofern Art. 260 Abs. 3 AEUV überhaupt anwendbar wäre (quod non), auf Null oder einen Faktor unter 1 zu reduzieren.

2. Hilfsweise: Zahlungsverpflichtung sechs Monate nach der Urteilsverkündung

64. Sofern eine Anwendung von Art. 260 Abs. 3 AEUV hier statthaft wäre (quod non), beantragt die Bundesregierung hilfsweise, den Beginn der Zahlungsverpflichtung auf einen Zeitpunkt festzusetzen, der sechs Monate nach Verkündung des Urteils des Gerichtshofes liegt.

65. Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 2 Satz 2 AEUV sieht ausdrücklich vor, dass die Zahlungsverpflichtung ab dem vom Gerichtshof in seinem Urteil festgelegten Zeitpunkt eintritt. Die Vorschrift des Art. 260 Abs. 3 AEUV unterscheidet sich insoweit von Art. 260 Abs. 2 AEUV, der eine entsprechende Befugnis des Gerichtshofes, die Zahlungsverpflichtung erst nach dem Urteil wirksam werden zu lassen, nicht explizit vorsieht.

66. Die in Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 2 Satz 2 AEUV gewählte Formulierung soll es dem betreffenden Mitgliedstaat ermöglichen, dem Urteil des Gerichtshofes binnen einer allerletzten Frist nachzukommen, ohne dass ihn sogleich Sanktionen treffen. Dies ergibt sich eindeutig aus der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift und aus ihrem Zweck.

67. In dem bereits zitierten Übermittlungsvermerk des Präsidiums an den Konvent heißt es dazu:

„Verhängt der Gerichtshof auf Antrag der Kommission im Urteil auch eine Sanktion, so würde diese nach einer gewissen Frist ab Verkündung des Urteils gültig, falls der beklagte Staat dem Urteil nicht nachgekommen ist.“[CONV 734/03, S. 16.]

68. Hiernach liegt dem letzten Satz des Art. 260 AEUV eine klare Vorstellung zugrunde: Der Gerichtshof hat, sofern er sich auf Art. 260 Abs. 3 AEUV stützt, eine letzte Frist zu setzen, ab der die Zahlungsverpflichtung eintritt. Erst (und nur) dann, wenn der Mitgliedstaat dem Feststellungsurteil binnen dieser Frist nicht nachkommt, ist die verhängte Sanktion zu entrichten.

69. Allein eine solche Interpretation gibt Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 2 Satz 2 AEUV auch einen eigenen Sinn. Würde diese Regelung als bloße Befugnis interpretiert, den Zeitpunkt der Zahlungsverpflichtung nach eigenem Ermessen festzulegen, hätte es dieser Regelung nicht bedurft. Denn die Befugnis des Gerichtshofes, den Zeitpunkt der Zahlungsverpflichtung nach eigenem Ermessen festzusetzen, ist den Sanktionsvorschriften aus Art. 260 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV ohnehin immanent. Speziell zu Art. 260 Abs. 2 AEUV hat der Gerichtshof sie auch längst schon anerkannt.[EuGH Rs. C-278/01, Kommission/Spanien, Slg. 2003, I-14141 Randnr. 51; Rs. C-369/07, Kommission/Griechenland, Slg. 2009, I-5703 Randnr. 125; Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed in der Rs. C-177/04, Kommission/Frankreich, Slg. 2006, I-2461 Randnr. 70.] Einen eigenen Sinn erhält diese Regelung demnach nur, wenn sie so interpretiert wird, wie sie gedacht war: Als Gewährung einer letzten Frist, die es dem Mitgliedstaat kurzfristig noch ermöglicht, Sanktionen abzuwenden, indem den – erstmaligen (!) – Beanstandungen des Gerichtshofes nachgekommen wird. (Nur) Bei diesem Verständnis bildet Art. 260 Abs. 3 Unterabs. 2 Satz 2 AEUV einen sinnvollen Ausgleich dafür, dass – nach Auffassung der Kommission – Finanzsanktionen wegen nicht mitgeteilter Richtlinien erstmals im Klageverfahren (also ohne dazu rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren zu gewähren) benannt werden dürfen (vgl. oben Randnr. 29).

70. Die Gewährung einer letzten Frist von sechs Monaten vor Eintritt der Zahlungsverpflichtung erscheint hier angemessen. Die Bundesregierung würde, sofern sich die Richtlinie auch als gültig erweist, einen Gesetzentwurf binnen kürzester Frist in das parlamentarische Verfahren einbringen.

V. Entscheidung erst nach der Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen Digital Rights Ireland (C-293/12)

71. Die Bundesregierung regt an, das vorliegende Klageverfahren zeitlich nach dem Vorabentscheidungsersuchen Digital Rights Ireland (C-293/12) zu entscheiden. In der Rechtssache Digital Rights Ireland ist u.a. die Frage zu beantworten, ob die Richtlinie 2006/24/EG wegen Verletzung der Charta der Grundrechte und anderer Vorschriften des Primärrechts ungültig ist.

72. Einem Urteil des Gerichtshofs, mit dem im Vorabentscheidungsverfahren eine Unionshandlung für ungültig erklärt wird, kommt grundsätzlich rückwirkende Geltung zu.[EuGH Rs. C-228/92, Roquette Frères, Slg. 1994, I-1445 Randnr. 17.] Würde der Gerichtshof die Richtlinie 2006/24/EG für unwirksam erklären, könnte sie folglich weder dem Feststellungsantrag noch dem Antrag auf Verhängung eines Zwangsgeldes zugrunde gelegt werden: Der Antrag auf Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie nicht vollständig erlassen hat, wäre abzuweisen, weil Deutschland zum Ablauf der in der begründeten Stellungnahme gesetzten Frist keine Verpflichtung traf, diese Richtlinie vollständig umzusetzen. Und der Antrag auf Auferlegung eines Zwangsgeldes i.H.v. 315.036,54 € wäre abzuweisen, weil die Bundesrepublik Deutschland keine unionsrechtlichen Verpflichtungen träfen, die im Wege eines Zwangsgeldes erzwungen werden könnten.

Dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors Patrick wieder und ist kein offizielles Statement des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung.

Aus einer heutigen Pressemitteilung der hannoverschen Ortsgruppe des AK Vorrat.

Nachdem die hannoversche Gruppe des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung auf ihre Fragen rund um die Demonstrationen von und gegen Rechtsextreme vom 4. August 2012 in Bad Nenndorf und Hannover Antworten von den Polizeidirektionen Hannover und Göttingen erhalten hat, setzen die Aktivisten nun mit zwei neuen offenen Briefen nach.

Einige Fragen wurden in den Briefen der Behörden ignoriert, andere ausweichend behandelt.

Nun fragt der AK Vorrat Hannover bei der Polizeidirektion Hannover direkt nach, welches die Rechtsgrundlage für das dokumentierte heimliche Fotografieren durch die Polizei am 4. August 2012 ist. Weitere Fragen an die Polizeidirektion Hannover betreffen den durch die Einkesselung durch Polizisten vollzogenen Freiheitsentzug, der eigenen Beobachtungen nach als überzogen und willkürlich bewertet wird.

Im offenen Brief an die Polizeidirektion Göttingen hingegen drehen sich die Fragen um den Einsatz der Polizei-Drohne. Die Bürgerinitiative fordert die Veröffentlichung der mit Steuergeldern produzierten Bilder – schließlich lassen diese nach Angaben der Polizei keinerlei Identifizierung von Menschen zu und haben weiterhin ausschließlich zur Überprüfung der Verkehrssituation und anderer harmloser Dinge gedient. Aus der vorherigen Antwort aus Göttingen war schlußzufolgern, dass die durch die Drohne gefertigten Bildaufnahmen nicht gelöscht wurden.

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Dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors Michael wieder und ist kein offizielles Statement des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung.

64.704 Menschen haben die Petition gegen die Vorratsdatenspeicheung beim Bundestag mitgezeichnet. Am Montag, den 15. Oktober wird der Petitionsausschuss die Frage behandeln, ob die erneuten Vorstöße für die Vorratsdatenspeicherung im Sinne der Bürgerinnen und Bürger sind. Wir wollen die Abgeordneten am  Wochenende vor der Anhörung daran erinnern, dass eine breite Mehrheit  der Bevölkerung die Vorratsdatenspeicherung nach wie vor ablehnt.

 

Vorratsdatenspeicherung – das  ist die verdachtsunabhängige und anlasslose Erfassung und Speicherung  der Verbindungsdaten aller Menschen in Deutschland. Ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung würde dazu führen, dass IP-Adressen, Funkzellen und viele anderen sensiblen Kommunikationsdaten für einen Zeitraum von mehreren Monaten gespeichert werden. Da Technik und elektronische Kommunikation nicht mehr aus dem Alltag der meisten Menschen wegzudenken ist, hat Vorratsdatenspeicherung zwangsläufig die Erstellung von detaillierten Bewegungs- und Kommunikationsprofilen zur Folge. Obwohl das Bundesverfassungsgericht 2010 die Vorratsdatenspeicherung in Folge der damals größten Verfassungsbeschwerde gestoppt hat, vergeht kaum eine Woche ohne einen erneuten Vorstoß für die Wiedereinführung dieser Maßnahme.

Das Verwaltungsgericht Berlin hat Prozesskostenhilfe für eine Klage gegen das Bundesjustizministerium auf Dokumenteneinsicht bewilligt. Der Kläger Stephan Weinberger will herausfinden, welche Schriftsätze in dem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen Nichtumsetzung der Vorratsdatenspeicherung gewechselt wurden.

Er verlangt Herausgabe der folgenden Unterlagen:

a) alle sich in der Vorgangsakte befindlichen Stellungnahmen des Bundesministeriums der Justiz an die Europäische Kommission zu dem Vertragsverletzungsverfahren Az. 2011/2091

b) alle sich in der Vorgangsakte befindlichen Antwortschreiben der Europäischen Kommission zu dem Vertragsverletzungsverfahren Az. 2011/2091

c) Stellungnahmen anderer Behörden, öffentlicher Einrichtungen oder Dritter, soweit vorhanden, zu dem Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission Az. 2011/2091

d) Klageschrift der Europäischen Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland und so weit vorhanden auch die Klageerwiderung der Beklagten Bundesrepublik Deutschland zu dem Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission Az. 2011/2091

Die Übersendung des Schriftverkehrs Deutschlands mit der Europäischen Kommission hat das Bundesjustizministerium u.a. aus folgenden Gründen abgelehnt:

„Die notwendige Vertraulichkeit internationaler Verhandlungen würde durch die Herausgabe beeinträchtigt werden.“

„Beeinträchtigung der Verhandlungsabläufe und des Dialogs mit der Europäischen Kommission.“

„Negative Auswirkungen auf die Interessen der Bundesrepublik Deutschland.“

„Nachteilige Auswirkungen auf internationale Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland“.

„Beeinträchtigung der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Kommission.“

Der Kläger hält entgegen, die Öffentlichkeit habe wegen der weitreichenden Folgen einer anlasslosen Vorratsspeicherung sämtlicher Verbindungs-, Bewegungs- und Internetzugangsdaten Anspruch darauf, über den Verlauf des Verfahrens unterrichtet zu werden.

Das Gericht hat für die Klage bereits Prozesskostenhilfe bewilligt, was voraus setzt, dass die Klage Aussicht auf Erfolg hat. Man darf also auf die Entscheidung in der Sache gespannt sein. Alle Dokumente zu dem Verfahren gibt es – fortlaufend aktualisiert – bei „Frag den Staat“.

 

Dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors Patrick wieder und ist kein offizielles Statement des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung.

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Ein Beitrag von Uli.

Informations- und Diskussionsveranstaltung zur elektronischen Gesundheitskarte am 8.10.2012 in Frankfurt/Main

Alles sicher bei der elektronischen Gesundheitskarte (eGk)?

oder

Sind unsere Krankendaten bald alle im Netz?

 

Diese Fragen bewegen viele Menschen, die in den letzten Wochen die Aufforderung ihrer Krankenkasse erhalten haben, ein Passfoto einzureichen, damit ihnen statt der bisherigen Versichertenkarte die neue elektronische Gesundheitskarte ausgestellt werden kann.

Wir wollen Fachleute zu Wort kommen lassen und Antworten geben:

Walter Ernestus,
stv. Leiter des Referats VI (Technologischer Datenschutz) des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) aus Bonn

und

Matthias Jochheim,
Arzt, Vorsitzender der deutschen Sektion des IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.) aus Frankfurt/Main

Beide werden zum Stand der Dinge um die elektronische Gesundheitskarte referieren und für Fragen rund um das umstrittene Mega-IT-Projekt der Bundesregierung zur Verfügung stehen.

Am Montag den 8. Oktober 2012 um 19.30 Uhr

Im Bürgerhaus Bornheim (Clubraum 2),
Arnsburger Str. 24,
60385 Frankfurt a. M.
(Nähe U-Bahn-Station Höhenstraße Linie U 4)

 

Die Veranstaltung wird organisiert durch die

die Datenschützer Rhein-Main
– keine Untaten mit Bürgerdaten –

in Zusammenarbeit mit der
Bürgervereinigung Seckbach e. V. (BVS)

Kontakt-E-Mail: die-datenschuetzer-rhein-main (at) arcor.de

 

Weitere Informationen zum Thema „Elektronische Gesundheitskarte“

 

Dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors Uli wieder und ist kein offizielles Statement des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung.