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+++ EU-Kommission will Klage auf Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung erheben +++ Verurteilung viel kostengünstiger als Umsetzung +++  

Nachdem sich Deutschland zurecht weigert, die Spitzelrichtlinie zur verdachtslosen flächendeckenden Vorratsspeicherung aller unserer Verbindungsdaten umzusetzen, hat die EU-Kommission heute beschlossen, Klage gegen Deutschland zu erheben und dem EU-Gerichtshof vorzuschlagen, die Zahlung eines Zwangsgelds in Höhe von 315 036.54 EUR für jeden Tag ab dem Urteil des Gerichtshofs bis zur Beendigung des Verstoßes gegen EU-Recht zu verhängen (Artikel 260 Absatz 3 AEUV).

Damit verzichtet die EU-Kommission darauf, die Zahlung einer Strafe (Pauschalbetrag) für die Nichtumsetzung in der Vergangenheit zu verlangen. Das Kostenrisiko für Deutschland ist mit 1,42 Euro pro Bürger und Jahr gering. Im Fall einer Verurteilung könnte noch immer ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung auf den Weg gebracht werden. Würde dies sechs Monate dauern, kostete dies uns bloß 57 Mio. Euro – ein Bruchteil des Betrags, den wir im Fall einer Vorratsdatenspeicherung über höhere Preise an unsere Anbieter zahlen müssten.

Deutschlands Widerstand muss in jedem Fall aufrecht erhalten werden, bis der EU-Gerichtshof über die Vereinbarkeit der katastrophalen EU-Richtlinie zur verdachtslosen Vorratsdatenspeicherung mit unseren Grundrechten entschieden hat. Der oberste irische Gerichtshof hat eine entsprechende Vorlage angekündigt, aber noch nicht fertiggestellt.

Ich rechne damit, dass der EU-Gerichtshof – wie zuvor die Verfassungsgerichte Rumäniens, Deutschlands und der tschechischen Republik – die Richtlinie (zumal in ihrer gegenwärtigen Form) als unverhältnismäßige Verletzung unserer Grundrechte für nichtig erklären wird. Damit entfällt die Umsetzungspflicht und ist der Weg frei für ein zielgerichtetes, verdachtsabhängiges Ermittlungsinstrumentarium. Ob die EU-Kommission zwischenzeitlich gezahlte Zwangsgelder zurückerstatten muss, ist noch nicht geklärt.

Unterdessen ist bekannt geworden, dass sich die Koalition in Schleswig-Holstein aus SPD, Grünen und SSW heute darauf verständigt haben soll, ein etwaiges Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung im Bundesrat abzulehnen. Erstmals wendet sich damit auch eine SPD-Fraktion von der Idee einer flächendeckenden Totaldatenspeicherung ab, die auch zwei Drittel der Bürger zurückweisen.

Weitere Informationen: Alles zum EU-Vertragsverletzungsverfahren zur Vorratsdatenspeicherung

Beitrag von Patrick – Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.

Unter Berufung auf ein Rechtsgutachten ihres Juristischen Dienstes behauptet die EU-Innenkommissarin Malmström, es sei rechtlich unmöglich, den EU-Mitgliedsstaaten das „Ob“ einer flächendeckenden Vorratsspeicherung von Verbindungsdaten künftig freizustellen. Doch in dem Rechtsgutachten steht etwas anderes.

Nach monatelanger Korrespondenz, hunderter von Eingaben, einer Abgeordnetenanfrageund einer Klage hat die EU-Kommission endlich das Rechtsgutachten Ares(2010)828204 herausgegeben (pdf, englisch), aus dem sich ergeben soll, dass die EU auch künftig allen Mitgliedsstaaten vorschreiben müsse, das Telekommunikationsverhalten ihrer sämtlicher Bürger ohne jeden Verdacht „auf Vorrat“ erfassen zu lassen.

Nun stellt sich heraus: Das ominöse Rechtsgutachten vom 10. November 2010 behandelt eine ganz andere Frage. Es besagt, dass es nicht möglich wäre, den EU-Mitgliedsstaaten freizustellen, ob sie die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung anwenden oder nicht. Gut so! Denn wäre die Anwendung der Richtlinie freigestellt, könnte Polen beispielsweise den extremen Vorschlag wieder aufgreifen, Verbindungsdaten 15 Jahre lang auf Vorrat speichern zu lassen. Die EU-Richtlinie begrenzt die maximale Speicherdauer auf zwei Jahre, und das ist besser, als wenn es keine verbindliche Obergrenze gäbe.

Die Anwendung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung freizustellen, steht nicht zur Debatte. Es geht um etwas anderes: Die Zivilgesellschaft fordert ein EU-weites Verbot von Gesetzen zur Vorratsdatenspeicherung. Auf diese Option geht das Rechtsgutachten nicht ein.

Einige Organisationen schlagen als Kompromiss vor, dass die katastrophale EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung künftig nur noch verbindliche Obergrenzen und Schutzvorschriften für solche Mitgliedsstaaten definieren könnte, deren Parlamente, Bürger und Verfassungsgerichte sich überhaupt für eine vollkommen verdachtslose Vorratsdatenspeicherung entscheiden. Mit einem solchen Inhalt wäre die EU-Richtlinie weiterhin für alle Mitgliedsstaaten verbindlich. Sie würde nur nicht mehr europaweit zu einer flächendeckenden Vorratsdatenspeicherung zwingen, sondern alternativ auch eine nur anlassbezogene Speicherung im Verdachtsfall zulassen. Insoweit wäre eine teilweise Rückkehr zu der Situation vor Verabschiedung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung gegeben. Es bliebe jedoch bei den grundrechtsschonenden Obergrenzen für EU-Staaten, die ohne Anlass speichern lassen wollen.

Dass es unmöglich wäre, den Mitgliedsstaaten eine verdachtslose Vorratsdatenspeicherung (nicht die Anwendung der Richtlinie!) freizustellen, besagt das Rechtsgutachten nicht. Es behandelt die Frage einer optionalen Richtlinie, nicht aber den Vorschlag einer Aufhebung der Vorratsdatenspeicherungspflicht. Insofern verfehlt das Gutachten das Thema.

Soweit die EU-Kommission meint, ein Wahlrecht der Mitgliedsstaaten würde zur Wiedereinführung von Hemmnissen für den Binnenmarkt führen, erlaubt das EU-Recht selbstverständlich die (teilweise) Rücknahme von Harmonisierungsmaßnahmen. Im Übrigen hat die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung in Wahrheit eine Fragmentierung und keineswegs eine Harmonisierung der Pflichten von TK-Anbietern erreicht. Ein enges Wahlrecht, wie von Nichtregierungsorganisationen vorgeschlagen, könnte eine viel stärkere Vereinheitlichung als bisher bewirken (Näheres hier).

Gänzlich ins Abstruse driftet die Argumentation der EU-Kommission ab, wenn der EU-weite Zwang zur Erfassung aller Kontakte als „gemeinsamer Mindeststandard für […] Grundrechte“ dargestellt wird. Die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung kann allenfalls als einheitliche Aushöhlung der Grundrechte angesehen werden. Ein Zwang zur unterschiedslosen, pauschalen Vorratsspeicherung aller Verbindungsdaten ist das Gegenteil von Grundrechtsschutz.

Auf meine Nachfrage hat der Europarechtler Prof. Dr. Fischer-Lescano bestätigt, dass das oben als Kompromiss skizzierte „Konditionalmodell“ möglich und umsetzbar wäre. Leider weigert sich das EU-Innenkommissariat standhaft, dieses Modell in seine laufenden Überlegungen (Folgenabschätzung) zur Änderung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung auch nur einzubeziehen. Es wird daher wohl dem EU-Parlament und dem EU-Gerichtshof überlassen bleiben, diese Kompromissmöglichkeit zu erörtern. Die Frage der Vorratsdatenspeicherung ist viel zu sensibel und wird in Europa viel zu unterschiedlich beurteilt, als dass ein EU-weites Einheitskorsett möglich wäre.

Anders als der Juristische Dienst andeutet ist es der EU übrigens nicht möglich, eine Vorratsdatenspeicherung auf der Grundlage von Art. 87 Abs. 2 Buchst. a AEUV zu erzwingen, weil Vorratsdatenspeicherung die nationale Strafverfolgung erleichtern soll und die internationale polizeiliche Zusammenarbeit nicht betrifft (Details hier).

Beitrag von Patrick – Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.

This is how we argue that there is no obligation for EU Member States to transpose the EU’s controversial data retention directive 2006/24/EC:

  1. Article 8 ECHR prohibits Germany to transpose that directive. As the Constitutional Rourt of Romania has found, blanket communications data retention violates Article 8 ECHR. The ECHR is just as binding on Member States as EU law. As the EU respects the ECHR there can be no obligation to transpose secondary EU law that violates the ECHR.
  2. The data retention directive will soon be annulled by the ECJ. The Irish High Court is to refer to the ECJ the question of whether the data retention directive is in line with the EU Charta on Fundamental Rights. It is entirely disproportionate to require blanket communications data throughout the EU merely on the basis of preventing market distortion (Article 114 TFEU). More information
  3. In the meantime Member States can request under Article 114 (4) TFEU to be exempted from having to implement the directive, with a view of maintaining a higher level of protection of fundamental rights than the EU does. If the Commission refuses, the Member State should take the matter to the ECJ. More information (in German)

Blog post by Patrick – Opinions voiced in this post reflect the author’s personal point of view.