Wenig überraschend folgten auf das Urteil des EuGH über die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung seitens der BefürworterInnen der VDS die üblichen Reaktionen. Unerwartet offenbarten dabei einige jedoch, wie weit unsere Gesellschaft davon entfernt ist, die Mordserie der rechten Terrorgruppe NSU aufzuarbeiten und aus dieser Aufarbeitung die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
Andy Neumann, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter und Kriminalrat in der Staatsschutz-Abteilung des Bundeskriminalamts, gab in einem Interview mit Spiegel Online zu Protokoll:
„Nehmen wir zum Beispiel den Fall des „Nationalsozialistischen Untergrunds“: Wir werden nie lückenlos aufklären können, wer im Umfeld der mutmaßlichen Terroristen in den entscheidenden letzten Tagen mit wem telefoniert hat. Die Anbieter haben diese Daten einfach nicht mehr. Der Gedanke daran, dass sich vielleicht auch Personen, die jetzt pathologische Gedächtnislücken vorschützen, über unsere Hilflosigkeit ins Fäustchen lachen, macht mich wütend.“
Neumann ist nicht der/die Erste, der den Fall des NSU benutzt, um die (Wieder-)Einführung der Vorratsdatenspeicherung zu begründen. An seiner Aussage – die bis dato den zynischen Höhepunkt dieser Argumentation darstellt – lässt sich jedoch gut erkennen, welche grundlegenden Ansichten hinter diesem Argumentationsmuster stehen. Neumann ist angesichts der „Hilflosigkeit“ einer der Vorratsdatenspeicherung beraubten Polizei wütend. Im Fall des NSU gibt es mit Sicherheit gute Gründe, wütend und fassungslos zu sein: Zum Beispiel, dass ein Vertreter von BKA und BDK,
- die Angehörigen der Opfer jahrelang auf Basis stereotyper, strukturell-rassistischer Annahmen schikaniert hat
- eine rassistische Motivation der Morde vorschnell ausgeschlossen und Hinweise der Angehörigen wiederholt ignoriert hat
- durch diverse Ermittlungspannen, sowohl vor der Entdeckung des NSU als auch danach, negativ aufgefallen ist
Neumann führt dementsprechend konsequent weiterhin aus:
„Die Bevölkerung in Deutschland hat seit Jahrzehnten ein gleichbleibend hohes Vertrauen in ihre Polizei, und das völlig zu Recht.“
Die Angehörigen der Opfer des NSU haben wiederholt vom verlorenen Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat und die Polizei gesprochen. Sie kritisierten erst kürzlich anlässlich des 100. Verhandlungstages im NSU-Prozess, dass die von der Bundesregierung versprochene vollständige Aufklärung der Umstände und Hintergründe der Mordserie bislang ausgeblieben ist. Diese Stimmen scheinen für Neumann nicht zu existieren, wenn er von der „Bevölkerung“ spricht. Er reproduziert somit exakt die von den Angehörigen kritisierte Ignoranz und Ausgrenzung. Eine kritische Analyse des eigenen Verhaltens bleibt aus. Stattdessen stilisiert man sich lieber als Opfer einer fehlgeleiteten Politik und widriger Umstände oder schiebt die Verantwortung auf Andere. Deutlicher kann man wohl nicht darlegen, wie wenig Problembewusstsein in weiten Teilen der Ermittlungsbehörden (und der Gesellschaft) existiert.
Der revisionistische Rechtfertigungsversuch Neumanns offenbart die grundlegende Gefahr der Vorratsdatenspeicherung: Anders als er impliziert, wäre die NSU-Zelle mit Hilfe der VDS wohl kaum frühzeitig enttarnt worden. (Neumann spricht bezeichnenderweise von den „entscheidenden letzten Tagen“) Sie wäre vielmehr ein weiteres Werkzeug gewesen, um die Angehörigen der Opfer noch massiver zu überwachen und weitere Indizen oder Verdachtsmomente gegen sie zu erheben. In den Händen von Polizei und Geheimdiensten, die alles andere als frei von strukturellem Rassismus und Vorurteilen sind und sich einer Aufarbeitung von Verfehlungen kategorisch verweigern, ist die Vorratsdatenspeicherung eine ungleich größere Gefahr als die – in vielen Studien widerlegte – vermeintliche Behinderung der Ermittlungsarbeit, von der Neumann und Co sprechen.
Wie so oft im Bereich der Sicherheitspolitik wird versucht, ein Symptom brutalstmöglich und öffentlichkeitswirksam zu bekämpfen, ohne dessen Ursache zu betrachten. Um es mit dem IT-Sicherheitsexperten Bruce Schneier zu sagen: „Wenn Sie denken Sie könnten Ihre Sicherheitsprobleme durch Technologie lösen, haben Sie weder Ihre Probleme noch die Technologie verstanden.“ Gleiches gilt in noch viel stärkerem Maße für gesellschaftliche Probleme. Ohne die Einsicht, dass das Problem Rassismus heißt, ist eine Aufarbeitung der NSU-Mordserie nicht möglich. Wer die NSU-Mordserie als Argument für die Durchsetzung von Überwachungsmaßnahmen anführt, disqualifiziert sich selbst.
AK Vorrat Münster