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Anlässlich der Freiheit statt Angst Demonstration in Münster am 15.8.2015 haben wir folgenden Redebeitrag gehalten:

Wir werden überwacht. Jetzt. Hier. Ausnahmslos. Die Enthüllungen des ehemaligen NSA-Mitarbeiters Edward Snowden haben uns dies in den letzten beiden Jahren deutlich vor Augen geführt. Seine Informationen legen eine systematische globale Überwachung offen, die selbst langjährige Aktivist*innen (wie wir) in ihrer technischen Raffinesse und ihrem gigantischen Umfang zwar für theoretisch möglich, aber nicht für realistisch gehalten hatten.

Nach der ersten Welle von verhaltener Empörung und seichter Verleugnung folgte die große Resignation. Zu abstrakt, zu weit weg und zu übermächtig erschien die Allianz aus Geheimdiensten, Polizei, Militär und ihren Helfer*innen aus der Wirtschaft. Viele fanden sich mit dem Gedanken ab, dass ihnen über die Schulter geguckt wird, vorausgesetzt, dies geschieht diskret und ohne größere Störung des eigenen Alltags. Anstelle von wütenden Forderungen nach radikalen Veränderungen trat ein unerschütterliches Vertrauen in die deutschen Sicherheitsbehörden.
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Wenig überraschend folgten auf das Urteil des EuGH über die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung seitens der BefürworterInnen der VDS die üblichen Reaktionen. Unerwartet offenbarten dabei einige jedoch, wie weit unsere Gesellschaft davon entfernt ist, die Mordserie der rechten Terrorgruppe NSU aufzuarbeiten und aus dieser Aufarbeitung die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.

Andy Neumann, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter und Kriminalrat in der Staatsschutz-Abteilung des Bundeskriminalamts, gab in einem Interview mit Spiegel Online zu Protokoll:

„Nehmen wir zum Beispiel den Fall des „Nationalsozialistischen Untergrunds“: Wir werden nie lückenlos aufklären können, wer im Umfeld der mutmaßlichen Terroristen in den entscheidenden letzten Tagen mit wem telefoniert hat. Die Anbieter haben diese Daten einfach nicht mehr. Der Gedanke daran, dass sich vielleicht auch Personen, die jetzt pathologische Gedächtnislücken vorschützen, über unsere Hilflosigkeit ins Fäustchen lachen, macht mich wütend.“

Neumann ist nicht der/die Erste, der den Fall des NSU benutzt, um die (Wieder-)Einführung der Vorratsdatenspeicherung zu begründen. An seiner Aussage – die bis dato den zynischen Höhepunkt dieser Argumentation darstellt – lässt sich jedoch gut erkennen, welche grundlegenden Ansichten hinter diesem Argumentationsmuster stehen. Neumann ist angesichts der „Hilflosigkeit“ einer der Vorratsdatenspeicherung beraubten Polizei wütend. Im Fall des NSU gibt es mit Sicherheit gute Gründe, wütend und fassungslos zu sein: Zum Beispiel, dass ein Vertreter von BKA und BDK,

  • die Angehörigen der Opfer jahrelang auf Basis stereotyper, strukturell-rassistischer Annahmen schikaniert hat
  • eine rassistische Motivation der Morde vorschnell ausgeschlossen und Hinweise der Angehörigen wiederholt ignoriert hat
  • durch diverse Ermittlungspannen, sowohl vor der Entdeckung des NSU als auch danach, negativ aufgefallen ist

Neumann führt dementsprechend konsequent weiterhin aus:

„Die Bevölkerung in Deutschland hat seit Jahrzehnten ein gleichbleibend hohes Vertrauen in ihre Polizei, und das völlig zu Recht.“

Die Angehörigen der Opfer des NSU haben wiederholt vom verlorenen Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat und die Polizei gesprochen. Sie kritisierten erst kürzlich anlässlich des 100. Verhandlungstages im NSU-Prozess, dass die von der Bundesregierung versprochene vollständige Aufklärung der Umstände und Hintergründe der Mordserie bislang ausgeblieben ist. Diese Stimmen scheinen für Neumann nicht zu existieren, wenn er von der „Bevölkerung“ spricht. Er reproduziert somit exakt die von den Angehörigen kritisierte Ignoranz und Ausgrenzung. Eine kritische Analyse des eigenen Verhaltens bleibt aus. Stattdessen stilisiert man sich lieber als Opfer einer fehlgeleiteten Politik und widriger Umstände oder schiebt die Verantwortung auf Andere. Deutlicher kann man wohl nicht darlegen, wie wenig Problembewusstsein in weiten Teilen der Ermittlungsbehörden (und der Gesellschaft) existiert.

Der revisionistische Rechtfertigungsversuch Neumanns offenbart die grundlegende Gefahr der Vorratsdatenspeicherung: Anders als er impliziert, wäre die NSU-Zelle mit Hilfe der VDS wohl kaum frühzeitig enttarnt worden. (Neumann spricht bezeichnenderweise von den „entscheidenden letzten Tagen“) Sie wäre vielmehr ein weiteres Werkzeug gewesen, um die Angehörigen der Opfer noch massiver zu überwachen und weitere Indizen oder Verdachtsmomente gegen sie zu erheben. In den Händen von Polizei und Geheimdiensten, die alles andere als frei von strukturellem Rassismus und Vorurteilen sind und sich einer Aufarbeitung von Verfehlungen kategorisch verweigern, ist die Vorratsdatenspeicherung eine ungleich größere Gefahr als die – in vielen Studien widerlegte – vermeintliche Behinderung der Ermittlungsarbeit, von der Neumann und Co sprechen.

Wie so oft im Bereich der Sicherheitspolitik wird versucht, ein Symptom brutalstmöglich und öffentlichkeitswirksam zu bekämpfen, ohne dessen Ursache zu betrachten. Um es mit dem IT-Sicherheitsexperten Bruce Schneier zu sagen: „Wenn Sie denken Sie könnten Ihre Sicherheitsprobleme durch Technologie lösen, haben Sie weder Ihre Probleme noch die Technologie verstanden.“ Gleiches gilt in noch viel stärkerem Maße für gesellschaftliche Probleme. Ohne die Einsicht, dass das Problem Rassismus heißt, ist eine Aufarbeitung der NSU-Mordserie nicht möglich. Wer die NSU-Mordserie als Argument für die Durchsetzung von Überwachungsmaßnahmen anführt, disqualifiziert sich selbst.

AK Vorrat Münster

Dieser Beitrag ist Teil der Reihe „Bau Dir Deine Meinung! Eine Anleitung zum Populismus„, in der wir Entwurfmuster für die Argumentation pro neue Überwachungsmaßnahmen vorstellen wollen.

Bei der Diskussion von Überwachungsgesetzen ist die zugrunde liegende Sachlage ebenso wie die gesellschaftlichen Auswirkungen in der Regel komplex und vielschichtig. Eine rationale Betrachtung benötigt Zeit und den Verzicht auf allzu grobe Vereinfachungen. Hier schafft der „Und jetzt: Panik!“-Ansatz Abhilfe: Panikmache ist überall da erlaubt, wo es den eigenen Argumenten hilft, aber überall dort anzuprangern, wo Argumente den eigenen Zielen zu schaden drohen. Zum Aufbau eines Bedrohungsszenarios darf gerne mal ein „wenig“ übertrieben werden, geht es dabei doch lediglich darum, die Dringlichkeit des Problems zu illustrieren. Die eigenen Argumente sollten kurz und polarisierend sein, Plausibilität und Abwägungen haben hier keine Priorität, es geht schließlich um Emotionen und Stammtischparolen. Kritischen Stimmen, die vor einem Überwachungsstaat o.Ä. warnen kann im Gegenzug Panikmache vorgeworfen werden, um deren Argumente zu entkräften. Es bietet sich an, letzteres noch durch den Verweis auf Experten und Expertinnen zu verstärken und die Kritiker und Kritikerinnen somit zu isolieren und zu delegitimieren. Der „Und jetzt: Panik!“-Baustein ist dabei ziemlich universell einsetzbar.

„[Es sei] nur eine Frage der Zeit, bis kriminelle Banden oder Terroristen virtuelle Bomben zur Verfügung haben werden.“
Innenminister Hans-Peter Friedrich warnt im Mai 2011 eindrücklich vor den Gefahren des „Cyberspace“

„Bedauerlicherweise ist das Thema mit dem Begriff Vorratsdatenspeicherung emotional stark belastet, etwa mit dem Vorwurf, es würden von jedem verdachtsunabhängig Daten erhoben. … Die Daten erst bei einem aufgekommenen Verdacht zu speichern, wie es Frau Leutheusser-Schnarrenberger vorschlägt, ist gut gemeint, aber nicht praktikabel.“
Innenminister Hans-Peter Friedrich im Oktober 2011 zum Stand der Debatte um die Vorratsdatenspeicherung

Wir können angesichts seiner völlig rationalen und besonnenen Warnung vor Terroristen mit virtuellen Bomben gar nicht nachvollziehen, warum die Kritiker und Kritikerinnen der Vorratsdatenspeicherung die Debatte mit dem Verweis auf Grundrechte immer so ins Unsachliche ziehen müssen. Seine Behauptung, die Daten würden nicht verdachtsunabhängig erhoben, widerlegt Herr Friedrich netterweise im gleichen Atemzug von selbst.

Nun noch einige Beispiele für „erfolgreiche“ „Und jetzt: Panik!“-Anwendungen:
„Ein Terrorangriff muss nicht mit Bomben oder Raketen erfolgen, er kann im Prinzip per email erfolgen. Panik, Unruhen und Hysterie in der Bevölkerung könnten jedenfalls mit polizeilichen Mitteln kaum zu bewältigen sein, deshalb war es dringend nötig, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Deutschland gegen diese Attacken nicht wehrlos ist.“
Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DpolG) zur Einführung des nationalen Cyberabwehrzentrums

„Die besorgniserregende Entwicklung der Internetkriminalität muss konsequent bekämpft werden. Der Vorsprung der Cyber-Gangster darf nicht noch größer werden.“
Bernhard Witthaut, Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP)

Wenn die DpolG und GdP die „Verbreitung von Panik, Unruhen und Hysterie“ verhindern möchten, könnten sie ganz einfach bei den eigenen Pressemitteilungen anfangen…

„Heute verabreden sich Menschen zu kriminellen Zwecken im Internet. Darauf müssen die Sicherheitsbehörden reagieren können. … Ich sage es sehr zugespitzt, die FDP ist ein Sicherheitsrisiko.“
Dieter Wiefelspütz, SPD-Innenexperte

Wir haben erschreckende Neuigkeiten für Herrn Wiefelspütz: Menschen verabreden und treffen sich auch außerhalb des Internets zu kriminellen Zwecken! Das ist aber noch kein Grund, die Totalüberwachung einzuführen. Weil es nicht zielführend, unverhältnismäßig und darüber hinaus schädlich für unsere Gesellschaft wäre. Außerdem haben die Sicherheitsbehörden bereits sehr viele – man könnte sehr zugespitzt auch sagen, viel zu viele – und zu wenig kontrollierte Mittel, um auf „Sicherheitsrisiken“ zu reagieren.

„Oft wird man vom eigentlichen Kern der Wahrheit weggeführt, statt hingeführt.“
Hans-Peter Friedrich, Innenminister, zum Umgang mit „der Wahrheit“ im Internet

Verschiedene Perspektiven, Meinungen und als Lösungsansätze nur noch Graustufen… schrecklich dieses Internet.

Blog-Beitrag des AK Vorrat Münster – dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung der Ortsgruppe wieder. Angestiftet von Aussagen wie den im Artikel genannten haben wir uns entschlossen, bedeutende Zitate rund um die Themen Netzpolitik, Sicherheitsgesetzgebung und anderen Schnellschußattacken zu sammeln. Dabei ist die Seite zitate.toxisch.net entstanden. Wenn ihr bedeutende, entlarvende, witzige Zitate habt schickt sie uns mit Quellenangabe zu. Wir freuen uns über jegliche Anmerkungen, Mails usw.

Seit Anfang des Jahres existiert neben dem bekannten Infoportal dieser Blog. Hier veröffentlichen Einzelpersonen und unabhängige Ortsgruppen aus dem AK Vorrat Nachrichten, Analysen und Kommentare zu Themen aus unserem Arbeitsgebiet. Im Gegensatz zu den offiziellen (Presse-)Mitteilungen des AK Vorrat sind die im Blog veröffentlichten Beiträge nicht innerhalb des AK Vorrat abgestimmt und stellen somit keine offiziellen Statements des AK Vorrat dar. Sie geben ausschließlich die persönliche Meinung der Autorinnen und Autoren wieder.

Und warum das Ganze?
Auf den ersten Blick erschließt sich wahrscheinlich nicht, warum nun ein weiterer Kommunikationskanal neben unseren offiziellen Mitteilungen etabliert werden soll. Auch innerhalb des AK Vorrat gab es anfangs Diskussionen, ob ein solcher Blog sinnvoll ist oder nur zu Verwirrung führt. Mittlerweile sind wir aber überzeugt, dass der Blog uns einige neue Möglichkeiten eröffnet:
Das Format einer Pressemitteilung beschränkt den Handlungsspielraum für einen Beitrag hinsichtlich des Aufbaus, der Länge, des zeitlichen Rahmens und auch der dort verwendeten Sprache doch erheblich – bei Blogbeiträgen ist der Handlungsspielraum deutlich größer. Wir beabsichtigen, so in Zukunft auch längere Analysen, Hintergrundberichte, Kommentare usw. zu veröffentlichen, ob zur Ergänzung einer offiziellen Mitteilung oder als alleinstehender Artikel.

Zudem haben Aktivistinnen und Aktivisten nun die Möglichkeit, Beiträge zu Themen abseits unseres „Kernthemas“ Vorratsdatenspeicherung zu veröffentlichen – auch wenn die Diskussion zu diesen innerhalb des AK Vorrat vielleicht noch nicht abgeschlossen wurde oder (noch) kein allgemeiner Konsens existiert. Somit können auch aktuelle Diskussionen innerhalb des AK Vorrat von Leuten abseits der Mailinglisten wahrgenommen und kommentiert werden. Wir hoffen, dass sich über die Beiträge auch die eine oder andere Diskussion mit netzpolitisch aktiven Menschen außerhalb des AK Vorrat entwickelt – auch Gastbeiträge im Blog sind denkbar.

Wir möchten daher all unsere Unterstützerinnen und Unterstützer einladen, sich aktiv an den Diskussionen rund um die Blogbeiträge zu beteiligen, uns Anregungen zuzuschicken oder selbst schreibend aktiv zu werden. Über Verlinkungen und Bekanntmachungen des Blogs freuen wir uns natürlich ebenfalls.

Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung

ps: Dieser Blogbeitrag wurde innerhalb des AK Vorrat abgestimmt und stellt somit ein offizielles Statement dar.