Mit der Occupy-Bewegung, aCAMPada, den Flüchtlings-Protesten und in anderen Zusammenhängen haben Menschen in diesem Land ihr Grundrecht auf Versammlung und Meinungsfreiheit wahrgenommen und die Idee einer Dauermahnwache neu belebt. Viele dieser Demonstrationen wurden polizeilich in umstrittener Weise geräumt (Beispiel Occupy Frankfurt), zum Teil unter Anwendung von erheblicher Gewalt (Beispiel aCAMPada Berlin).
Die Versammlungsfreiheit ist ein Grund- und Menschenrecht. Eine Zersplitterung und die zunehmende Beschneidung dieses einzigen auf gemeinschaftlichem Handeln und Agieren beruhenden Grundrechts hat mit der Föderalismusreform 2006 eingesetzt. Denn mit dieser Reform wurde den Bundesländern das Recht auf ländereigene Versammlungsgesetze eingeräumt und Deutschland wird seitdem zunehmend zum Flickenteppich unterschiedlicher, komplexer und zumeist behördenorientierter und -freundlicher Länder-Versammlungsgesetze.
Umso mehr ein Grund dafür, das Verständnis von Bedeutung und Wesen der Versammlungsfreiheit vom Grunde auf neu zu überdenken und aufzufrischen.
Grundlage ist der mit Leben zu erfüllende Artikel 8 GG Absatz 1:
„Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“
Ist damit nicht alles gesagt? Sind Versammlungsgesetze, wie sie der zweite Absatz des Artikel 8 erlaubt, überhaupt notwendig?
Die bisherigen zur Versammlungsfreiheit ergangenen Rechtsprechungen, die nach wie vor und abseits aller Gesetzgebungen Gültigkeit besitzen, sind nur in wenigen anderen Fällen so klar und belebend wie der Brokdorf-Beschluß vom 14. Mai 1985.
Darin heißt es unter anderem:
„[Versammlungen bieten] die Möglichkeit zur öffentlichen Einflussnahme auf den politischen Prozeß, zur Entwicklung pluralistischer Initiativen und Alternativen oder auch zu Kritik und Protest …; sie enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren.“
Und an anderer Stelle:
„[Der Schutz von Versammlungen] umfaßt vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen. Es gehören auch solche mit Demonstrationscharakter dazu, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird.“
Mahnwachen und Protestcamps sind genau solche zu schützende Versammlungen, bei denen Menschen in persona durch ihre andauernde Anwesenheit mahnen, hinweisen, aufrütteln wollen. Sie nehmen ihr über Jahrhunderte erstrittene Recht auf Teilnahme am politischen Meinungsbildungsprozess wahr, zu der ihnen z.B. mangels Geld, Macht, Einfluß und Wortgewandtheit keine oder kaum eine andere Möglichkeit als die eines wirksamen und Aufmerksamkeit erregenden Protestes bleibt.
Einigen (oder vielen?) Polizei- und Versammlungsbehörden sind diese Mahnwachen ein Dorn im Auge. Aus der Sicht der „Ordnungshüter“ durchaus nachvollziehbar: Ursprünglich-ungebändigter Protest, der sich nicht nach starren Gesetzen oder normierenden Vorschriften „behandeln“ oder kategorisieren lässt, ist aus der Sicht der Polizeikräfte nichts, was wünschenswert wäre. Es ist ein fraglos schwieriges Geschäft.
Doch damit muss die Polizei leben, sie muss es aushalten können und sie darf schwierige Einsatzlagen im Zusammenhang mit friedlichen Protesten nicht zu unerwünschten Ereignissen deklarieren oder gar diese zu bekämpfen versuchen.
Genau aber dahin scheint die Reise zu gehen …
Der Düsseldorfer Polizeipräsident spricht
In der aktuellen Ausgabe des monatlich erscheinenden „Behörden-Spiegels“ hat sich der Düsseldorfer Polizeipräsident Herbert Schenkelberg über sein Verhältnis zu Protestcamps und Mahnwachen geäußert.
Anlass ist der in Düsseldorf durchgeführte Protest im Rahmen der „Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migranten“ in 2012 gewesen. Das Polizeipräsidium Düsseldorf hatte strenge und einschränkende Auflagen zur Verwendung von Schlaf- und Ruhegelegenheiten gemacht, zunächst vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf dazu Recht bekommen, dann aber vom Oberverwaltungsgericht NRW zurechtgewiesen und korrigiert worden.
Herr Schenkelberg offenbart eine merkwürdige Einstellung gegenüber den Demonstrierenden, wenn er in dem (leider online nicht verfügbaren) Beitrag des „Behörden-Spiegels“ die Überzeugung vertritt, dass Protestcamps „naturgemäß“ Konflikte erzeugen würden. Dass „Beschwerden an den Oberbürgermeister oder den Polizeipräsidenten vorprogrammiert“ seien, scheint weiterhin von besonderer Bedeutung für den Autor zu sein.
„Nach ordnungspolitischen Maßstäben ließen sich diese Camps schnell beseitigen“ schreibt Herr Schenkelberg. Schließlich fehle die „erforderliche Sonderbenutzungserlaubnis“. Leider aber, so führt der „beseitigungs“-willige Behördenvertreter sinngemäß weiter aus, würden die in diesem Rahmen demonstrierenden Menschen der Meinung sein, dass sie eine Versammlung im Sinne der Versammlungsfreiheit darstellen würden und deswegen die „Privilegien des Versammlungsrechts für sich in Anspruch nehmen.“
Die Versammlungsfreiheit als missbräuchlich in Anspruch genommenes Privileg?
Der Polizeipräsident vertritt die außerdem Ansicht, dass auf einer Mahnwache nicht ausgeruht oder gar geschlafen werden dürfe:
„Mahnwache kommt von Wachen und nicht vom Schlafen.“
Und weiter in diesem kruden Interpretationsstil:
„Wer in den Schlaf hinübergleitet, verlässt gleichsam die Versammlung, nimmt also bis zum Erwachen nicht mehr an dieser Teil. Nimmt er jedoch nicht mehr an der Versammlung teil, so unterliegt er den Regelungen des allgemeinen Ordnungsrechts, das das Campieren auf öffentlichen Straßen und Plätzen ausdrücklich verbietet.“
Dass ein Hungerstreik, eine Mahnwache, ein Protestcamp gerade erst durch den zum Teil aufopfernden und körperlich zehrenden persönlichen Einsatz der Demonstrierenden diejenige bedeutsame Ausdruckskraft erhält, die das Wesen dieses Protests ausmacht, das wird bei dieser Auffassung völlig verkannt und unter den Teppich gefegt.
Zum Schlafen und Duschen könne ein Mahnwachen-Teilnehmer ja „seine Wohnung aufsuchen“ und müsse deswegen nicht ununterbrochen an der Mahnwache teilnehmen, so der Polizeipräsident. Mit dieser Interpretation greift die Polizei allerdings tief in das Selbstbestimmungsrecht zur Ausgestaltung eines Protests ein und bricht die Kraft der selbstgewählten Form des Dauerprotests. Und angesichts der konkreten Umstände der Düsseldorfer Proteste, wo einige der Protestierenden gar keine „Wohnung zum Schlafen und Duschen“ besitzen, wirkt dieser Kommentar fast zynisch.
Eine höchst fragwürdige Handlungsanweisung
Was darf sich die Polizei erlauben?
Herr Schenkelberg beendet seine Erläuterungen mit einer Aufforderung, die man aus meiner Sicht fast als Aufruf zum Brechen der Versammlungsfreiheit verstehen könnte:
„Die bisherige Rechtsprechung [zur Protestform der Dauermahnwache] vermag keine verlässliche Orientierung zu geben. Den sich damit bietenden Ermessungsspielraum sollten die Versammlungsbehörden nutzen.“
Ich finde das skandalös.
Wie weiter?
Versammlungsfreiheit muss immer wieder verteidigt, neue Formen der friedlichen und Versammlung spielerisch ausprobiert und durchgesetzt werden.
Die Versammlungsgesetzgebung muss von der immer weiter ausufernden Zersplitterung zu einer bundesweiten Einheit zurückgeführt werden.
Ausgehend von der ernst gemeinten Frage, ob überhaupt ein Versammlungsgesetz notwendig ist, gehört die dazugehörige Debatte in die breite Öffentlichkeit. Das heißt: Versammlungsfreiheit darf nicht mehr von Rechtsexperten und Behördenvertretern behandelt und festgelegt werden sondern muß ein Thema für jeden Menschen werden.
Gesetze zur Versammlungsfreiheit müssen – wenn überhaupt notwendig – in einfacher und verständlicher Sprache, klar, kompakt und übersichtlich gestaltet werden. Sie müssen sich vorrangig an den Bedürfnissen der Protestierenden und nicht an den Öffnungszeiten, Bearbeitungsprozessen und Wünschen der Behörden orientieren.
Etwaige neue Versammlungsgesetze müssen kürzer statt länger werden!
Versammlungsfreiheit definiert sich nicht über Versammlungsgesetze sondern aus dem Selbstbewusstsein und dem Mut aufgeklärter und zur kritischen Reflektion gewachsener Bürger, friedlich und gewalfrei, und gleichzeitig aktiv und engagiert handelnd.
„Das Recht, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln, galt seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewußten Bürgers.“ (Bundesverfassungsgericht, Brokdorf-Beschluß)
Dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung von Micha wieder und ist kein offizielles Statement des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung.
Bilder und ihre Quellen (von oben nach unten):
– Protest in Bonn, April 1974: Bundesarchiv, B 145 Bild-F042511-0014 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA
– Hungerstreik in Neu-Delhi, Indien, Juni 2012, CC-BY-SA Sandigonsalvis
– Protestcamp in Großbritannien, London, August 2010, CC-BY-SA Green Lane
– Hungerstreik-Camp in Ungarn, September 2012, CC-BY-SA Szilas
– Protestcamp auf dem Tahrir-Platz in Kairo, Ägypten, Januar 2011, CC-BY-SA Al Jazeera English
– Hungerstreik in Erfurt, März 1990, Bundesarchiv, Bild 183-1990-0331-035 / Ludwig, Jürgen / CC-BY-SA
– Protestcamp in Jerewan, Armenien,Februar 2008, public domain von Serouj
– Protestcamp in Tel Aviv, Israel, September 2011, CC-BY-SA Roi Boshi
– Hungerstreik-Camp in Washington, USA, September 2009, CC-BY-SA AgnosticPreachersKid
Da passt doch auch folgendes rein:
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