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Auf circa 130 Seiten stellen die Herausgeberinnen des Gen-ethischen Netzwerks eine lesenswerte Sammlung von Beiträgen zusammen, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit der polizeilichen DNA-Vorratsspeicherung in Deutschland und anderen Ländern beschäftigen. Der bei Assoziation A erschienene und u.a. von der Wau Holland und Sebastian Cobler Stiftung geförderte Sammelband entstand im Nachgang der Kampagne “DNA-Sammelwut stoppen!”, die in den Jahren 2011 und 2012 den Fokus bürgerrechtlicher Kritik auch auf diese biometrischen Datensammlungen lenken sollte. Damals hatte beispielsweise das überdimensionierte Wattestäbchen – bekannt unter dem Namen “Willi Watte” – auf der Demonstration “Freiheit statt Angst” für Aufmerksamkeit gesorgt.

“Über eine Million Profile: DNA-Sammelwut in Deutschland”

Im ersten Teil des Buches wird neben den historischen, rechtlichen und biostatistischen Grundlagen vor allem über die Fehlerquellen, Unwägbarkeiten und ständigen Ausweitungen dieser polizeilichen Ermittlungsmethode aufgeklärt. Beispielsweise thematisiert die Journalistin Heike Kleffner in ihrem Beitrag, wie die DNA-Spur einer “unbekannten weiblichen Person” die Ermittlungen im Mordfall Kiesewetter in die Irre leitete. Die unter dem Begriff “Phantom von Heilbronn” bekannt gewordene falsche Verdächtigung, verursacht durch eine Verunreinigung von Wattestäbchen für DNA-Probennahmen, war allerdings nur eine Seite des schockierenden Falls, dessen gesamte Dimension erst später im Rahmen der NSU-Ermittlungen offenkundig wurde. Begünstigt wurde die falsche Ermittlungsrichtung nämlich nicht nur durch die vorgeblich so beweiskräftigten DNA-Spuren, sondern mindestens ebenso durch rassistische Stereotype der ermittelnden Polizeibeamten und der aufmerksamkeitsheischenden Medien, die unter der Überschrift “Landfahrer” und “Spur ins Zigeunermilieu” mehrere Sinti- und Roma-Familien unter Generalverdacht stellten.

Die rassistische Komponente von DNA-Datenbanken wird auch im Beitrag von Susanne Schultz über die Methode der Verwandtensuche deutlich: Da in den USA afroamerikanische Familien durchschnittlich größer sind als die Familien weißer US-Amerikaner, geraten durch das in einigen Bundesstaaten übliche, aber unscharfe “familial searching” diese Bevölkerungsgruppen häufiger in den Fokus polizeilicher Ermittlungen. Vorurteile gegenüber Menschen mit dunkler Hautfarbe durch die überwiegend von weißen besetzten Polizeiberufe führen zu einer diskriminierenden Strafverfolgungspraxis, die sich unter dem Stichwort “racial profiling” auch in Deutschland wiederfindet.

Der Beitrag über den ausgehöhlten Datenschutz und die Rechtslage in Deutschland zeigt die Problematik der DNA-Sammelwut: Die beim Bundeskriminalamt (BKA) im Verbund mit den Ländern betriebene DNA-Analyse-Datei (DAD) enthält derzeit 1.085.348 Datensätze, davon 826.924 Personen- und 258.424 Spurendatensätze. Anders als vom BKA behauptet, sind die meisten der Einträge jedoch nicht aufgrund schwerer Verbrechen gespeichert. Stattdessen werden dort vorwiegend Diebstahldelikte und Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz gespeichert. Zudem sind die gesetzlichen Vorschriften mit unbestimmten Rechtsbegriffen durchsetzt und in der Praxis werden selbst die wenigen Datenschutzgesichtspunkte – beispielsweise bei der Durchführung von Massengentests – nicht eingehalten. Insgesamt wird damit deutlich, dass für den Gesetzgeber und die Exekutive die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen auch in diesem Bereich polizeilicher Datenspeicherung als nachrangig gelten.

“Individuell und gemeinsam: Kampagnen, Protest, Widerstand hierzulande”

Der zweite Teil des Buchs gibt einen Überblick zu Kampagnen, Protest und Widerstand gegen die Praktiken der biometrischen Erfassung und die Vorratsdatenspeicherung von DNA-Profilen. Die meist relativ kurzen Beiträge zeichnen ein trauriges Bild: Einerseits wird zwar deutlich, dass es durchaus gezielte Kritik und Widerstand gegen diese Ermittlungsmethode gibt; schon in der gemeinsamen Erklärung verschiedener Frauenverbände zur Errichtung der DNA-Analyse Datei von 1999 hatten diese deutliche Worte gefunden. Dort ist beispielsweise von einem “trojanischen Pferd” und der Instrumentalisierung der Opfer für “Justizinteressen” die Rede. Andererseits sind die wenigen Versuche einer Verweigerung der DNA-Abgabe oft nicht erfolgreich.

Beispielsweise hat die Polizei trotz fehlender richterlicher Anordnung durch Zwangs- und Einschüchterungsmaßnahmen bei der Freiburger Wagengruppe “Sand im Getriebe” die Abnahme von DNA-Proben erreicht. Auslöser war eine geringfügige Sachbeschädigung in einer Straße in der Nähe. Auch ein Göttinger Antifa-Aktivist musste trotz renitenter Weigerung schließlich eine Speichelprobe abgeben, weil sich das Bundesverfassungsgericht letztendlich für seine Beschwerde als nicht zuständig erklärte. Allerdings sind solche Verweigerungen zugleich oft folgenschwer für die Betroffenen, wie der Beitrag von Winfried Wessolleck zeigt: In Gütersloh wurden 27 Verweigerer eines Massengentests von der Polizei kurzum zu “Tatverdächtigen” gemacht und von ihnen ein Alibi gefordert. Bei zehn Personen wurde anschließend eine richterliche Anordnung zur Speichelprobe eingeholt, obwohl die Beteiligung an Massengentests eigentlich “freiwillig” ist. Einer der Verweigerer wurde dann – ohne über die richterliche Anordnung informiert zu werden – von der Polizei in seiner Wohnung überfallen und gefesselt, mit Pfefferspray handlungsunfähig gemacht und auf der Polizeiwache zur Speichelprobe gezwungen. Zwar war die nachträgliche Beschwerde des Anwalts des Betroffenen erfolgreich, da kein Anfangsverdacht vorlag und kein Mensch gezwungen werden kann, den Nachweis seiner Unschuld selbst zu führen. Allerdings blieb die Strafanzeige wegen Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Nötigung gegen die Polizei sowie wegen Verfolgung Unschuldiger gegen Staatsanwaltschaft und Amtsrichterin folgenlos. Ein Klageerzwingungsverfahren wurde ebenfalls abgelehnt.

Ein ermutigendes Beispiel wird hingegen im Beitrag von Katrin Lange geschildert: Als in Erfurt wegen der Verwüstung von Büroräumen und des Diebstahls einer Spardose mit ca. 15 Euro alle Mitarbeiter der betroffenen Liegenschaft zur Abgabe einer “freiwilligen Speichelprobe” zum Zweck des Spurenabgleichs aufgefordert worden, zögerte eine Mitarbeiterin aus Unbehagen. Wenig später drohte die Kriminalpolizei in einem Telefongespräch damit, dass die Verweigernde möglicherweise selbst in den Fokus der Ermittlungen gelangen könnte – samt richterlicher Anordnung der gewünschten DNA-Speichelprobe. Daraufhin verweigerten auch die näheren Kollegen der Mitarbeiterin ihrerseits die Abgabe der Vergleichsprobe.

“Europa – USA – Global: DNA-Datennetze und Protestkampagnen”

Im dritten Teil des Buches erweitert sich der Fokus auf internationale Aspekte und Kampagnen. Dass Großbritannien nicht nur in Sachen Videoüberwachung eine weltweite Vorreiterrolle einnimmt, wird im Bericht von Alexander Schwarz deutlich: Weil er vor 20 Jahren in London einen unzulässigen Fahrschein benutzte und deshalb kurzerhand festgenommen wurde, ist sein DNA-Profil noch heute in der britischen DNA-Datenbank (NDNAD) gespeichert – zusammen mit den Profilen fast fünf Millionen weiterer Personen. Zu dieser Unmenge kommen noch ca. 450.000 Spurendatensätze hinzu, wie Helen Wallace in ihrem ausführlichen Beitrag beschreibt. Der Kampagne “GeneWatch” und einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist es zu verdanken, dass seit 2011 zumindest die DNA-Daten von Unschuldigen – solange es sich nicht um ein schweres Delikt handelt – gelöscht werden müssen.

Eric Töpfer nimmt in seinem Beitrag den Vertrag von Prüm und das europäische DNA-Datennetz in den Blick, welches maßgeblich vom SPD-Sicherheitsarchitekten Otto Schily ersonnen und vorangetrieben wurde. Dieser Vertrag dient auch als Vorbild für bilaterale Abkommen, mit denen beispielsweise die USA ihre biometrischen Datenbanken weltweit vernetzen. Zu Recht ordnet Töpfer diese Strategie als “transatlantischen DNA-Freihandel” ein, obgleich mit Deutschland wegen technischer Schwierigkeiten der automatisierte Abruf nach dem so genannten Hit/no-Hit-Verfahren noch nicht in die Praxis umgesetzt worden ist. Schließlich beleuchtet Uwe Wendling die Lobbypolitik der Biotech-Branche. Am Beispiel der in Washington ansässigen Firma “Gordon Thomas Honeywall ‘Governmental Affairs’” (GTH-GA) wird gezeigt, mit welchen Tricks die Lobbyisten vorwiegend in afrikanischen Staaten für eine umfassende DNA-Vorratsspeicherung und die Übernahme der FBI-Software CODIS werben.

Den Abschluss des Buches bildet ein Kompendium für Betroffene von DNA-Speicherungen, das auch im Internet auf den Webseiten des Gen-ethischen Netzwerks oder bei der Initiative Datenschmutz.de zur Verfügung steht. Darin wird neben der komplexen Rechtslage auch die dahinter wirkende DNA-Analysetechnik sowie die Vernetzung von DNA-Datenbanken kurz und übersichtlich erklärt. Schließlich kommen auch Strategien der Gegenwehr zur Sprache.

Fazit

Ein äußerst lesenswertes Buch, welches uns vielschichtig und unterhaltsam vor Augen führt, dass Regierungen und Polizeibehörden das Mittel der Vorratsspeicherung nicht nur für den Bereich der Telekommunikationsverbindungsdaten auf der Agenda hatten und haben. Einziges Manko: Die DNA-Sammelwut von Konzernen und privaten Forschungsinitiativen kommt bei der gewählten Fokussierung auf staatliche Bedarfsträger leider nicht zur Sprache. Gut das diese Datenberge unlängst in anderem Zusammenhang einer ausführlichen Kritik unterzogen worden sind.

Gen-ethisches Netzwerk (Hg.): Identität auf Vorrat – Zur Kritik der DNA-Sammelwut, Assoziation A, 2014, ISBN: 978-3-86241-439-0

Am 27. November findet ab 20 Uhr im Berliner Café k-fetisch (Wildenbruchstr. 86) die Buchvorstellung und Release-Party statt.

Dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors V. wieder und ist kein offizielles Statement des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung.

Unsere Freunde von der Humanistischen Union rufen für den 7.11. dazu auf, den Inlandsgeheimdienst symbolisch in den Ruhestand zu schicken. Ein guter Vorschlag, den auch die Ortsgruppe Berlin des Arbeitskreises Vorratsspeicherung unterstützt, weil der „Verfassungsschutz“ und seine Führungskräfte immer eifrige Verfechter und Nutznießer von Bestandsdaten sowie der anlasslosen Erfassung der Telekommunikationsverbindungsdaten aller Menschen waren (und teilweise noch immer sind).

Aus der Einladung der Kampagne „ausgeschnüffelt“ der Humanistischen Union:

Am Freitag, den 7. November 2014, wird der deutsche Inlandsgeheimdienst mit dem irreführenden Namen „Verfassungsschutz“ 64 Jahre alt. Wir schicken ihn in Frührente! Dafür stellen wir uns vor die Tore des Bundesamtes für Verfassungsschutz im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin-Treptow – mit einem überdimensionalen Rentenbescheid im Gepäck und lassen die Sektkorken knallen. Kommt zur Aktion!


Wann: Freitag, 7. November, 11:00 – ca. 12:00 Uhr
Wo: Elsenstr. 22, vor der Einfahrt zum GTAZ (nahe S-Bahnhof Treptower Park, Berlin)

Es gibt gute Gründe, den „Verfassungsschutz“ in Rente zu schicken: Seine Blindheit auf dem rechten Auge hat mit fortgeschrittenem Alter nur zugenommen. Wer als Sicherheitsbehörde über zehn Jahre lang ein rechtes Mördernetzwerk (NSU) unentdeckt lässt trotz zahlreicher Hinweise, hat versagt. Er ist eine Erfindung des Kalten Krieges und hat sich längst überholt. Schon zur Wende hätte man ihn abwracken sollen. Und er scheint an Inkontinenz zu leiden, da er immer wieder Dokumente an die NSA durchsickern lässt.

Ein Problem sind auch die Gemeinsamen Zentren mit anderen
Sicherheitsbehörden wie das GTAZ in Berlin. Sie entbehren bis heute jeder rechtlichen Grundlage. Geheimdienste und Polizeien sitzen hier Tür an Tür und treffen sich zu Lagebesprechungen. Dabei sollten die Behörden getrennt arbeiten, damit Geheimpolizeien wie die Stasi oder die Gestapo Vergangenheit bleiben.

Schreibt bitte eine kurze Rückmeldung an , wenn ihr zur Aktion kommen wollt, damit wir planen können. Und bringt gerne Banner und Plakate mit, die zu dem Thema passen.

Daher rufen wir als Ortsgruppe Berlin zu reger Beteiligung an dieser Aktion auf!

Zusammen mit anderen Bürgerrechtsorganisationen unterstützt auch der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung das gemeinsame Memorandum der Humanistischen Union, der Internationalen Liga für Menschenrechte und des Bundesarbeitskreises Kritischer Juragruppen zur Auflösung der Verfassungsschutzämter. Erst kürzlich ist wieder einmal ein Skandal bekannt geworden: Seit Jahren bespitzelt Niedersachsens Verfassungsschutz auch JournalistInnen. Und auch gesetztliche Festlegungen zum Datenschutz- und Aukunftsrecht scheinen für den „Verfassungsschutz“ nicht zu gelten.

Daher soll hier der Bericht der Humanistischen Union zur Vorstellung des Memorandums in Auszügen dokumentiert werden:

Mehrere bundesdeutsche Bürgerrechtsorganisationen präsentieren am heutigen Freitag, den 20. September 2013, in Berlin ein gemeinsames Memorandum zur Auflösung des „Verfassungsschutzes“ (VS). Die Autoren und unterstützenden Organisationen appellieren an die Politiker/innen aller Parteien, nach den jüngsten Geheimdienst-Skandalen endlich durchgreifende rechtspolitische Konsequenzen zu ziehen. Der Inlandsgeheimdienst habe sich wiederholt als ineffizient, überflüssig, demokratiefeindlich und unkontrollierbar erwiesen. Es handle sich dabei um permanente, systembedingte Defizite, die alle bisherigen Versuche einer Reform der VS-Behörden in Bund und Ländern überstanden haben. Die Verfassungsschutzbehörden sollten deshalb ersatzlos abgeschafft werden. Die Bürgerrechtsorganisationen rufen Bürgerinnen und Bürger dazu auf, ihre Forderung zu unterstützen.

Keine Sicherheitslücke bei Auflösung der VS-Behörden des Bundes und der Länder

Till Müller-Heidelberg (Humanistische Union) weist darauf hin, dass bei einer Auflösung des Bundesamtes und der 16 Landesbehörden für „Verfassungsschutz“ keine „Sicherheitslücken” entstünden. „Auch wenn heute immer wieder die Gefahr terroristischer Anschläge beschworen wird – davor schützt uns kein Verfassungsschutz. Seine gesetzliche Hauptaufgabe besteht darin, Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen zu sammeln.” Was „Verfassungsschützer“ darunter verstünden, lasse sich in jedem ihrer Jahresberichte nachlesen. Der VS registriere missliebige politische Auffassungen und denunziere deren Vertreter. „Keine der so genannten terroristischen Aktivitäten hat die Sicherheit von Bund und Ländern oder deren Verfassungsorgane ernsthaft gefährdet.” Bei „terroristischen” Taten handle es sich um mehr oder weniger gravierende Straftaten. „Für die Abwehr unmittelbar bevorstehender Gefahren sowie die Aufklärung solcher Gewalttaten ist allein die Polizei zuständig”, so Müller-Heidelberg. Er verweist zudem auf den jährlich von Bürgerrechtsorganisationen herausgegebenen „Grundrechte-Report“, der die Gefährdungen für Demokratie und Verfassungsordnung bilanziere. Diese gingen überwiegend von staatlichen Sicherheitsorganen, anderen Behörden und Wirtschaftsunternehmen aus. „Um Bedrohungen für unsere demokratische Gesellschaft zu erkennen, bedarf es keiner Geheimdienste. Die Expertisen zivilgesellschaftlicher Gruppen und sozialwissenschaftlicher Forschungen sind den Berichten und Lageeinschätzungen der amtlichen „Verfassungsschützer“ deutlich überlegen, wenn es etwa um Diagnose, Analyse und Früherkennung rassistischer Strukturen oder gewaltorientierter Gefahrenlagen geht. Und sie kommen ohne Schnüffeleien und unüberprüfbare Verrufserklärungen aus”, betont der Mitherausgeber des seit 1997 erscheinenden „alternativen Verfassungsschutzberichtes”.
Skandale, Machtmissbrauch und Bürgerrechtsverletzungen als Strukturprobleme

Für Rolf Gössner (Internationale Liga für Menschenrechte) sind die aktuellen Affären um NSU und NSA ein weiterer Beleg dafür, dass Geheimdienste wie der VS strukturell unkontrollierbar sind, skandalträchtig arbeiten und zur Verselbständigung neigen. „Das ist eine große Gefahr für viele Menschen und ihre Bürgerrechte. Unser Memorandum erinnert daran, dass die 63jährige Geschichte des VS eine Geschichte der Skandale und Bürgerrechtsverletzungen ist.” Gössner stellt klar, dass sich die Kritik am VS nicht etwa gegen sämtliche MitarbeiterInnen richte: „Es geht nicht in erster Linie um individuelles Fehlverhalten oder inkompetente VS-Bedienstete, sondern um intransparente, unkontrollierbare und deshalb demokratiewidrige Arbeitsweisen und Strukturen der VS-Behörden.” Deshalb würden auch die jetzt laufenden punktuellen Reformbemühungen dem Problem keineswegs gerecht. „Mehr IT-Kompetenz, eine bessere Quellenauswertung und neue Richtlinien zum Aktenumgang sind hilflose und untaugliche Versuche, denn sie lösen weder die strukturelle Blindheit des VS gegenüber den Gefahren von Rechts und aus der Mitte der Gesellschaft noch die im Kern demokratie- und rechtsstaatswidrige Arbeitsweise der Behörde.“ Mit Blick auf die vorgeschlagene Stärkung der Kompetenzen des Bundesamtes warnt Gössner: „Es wäre der Grundstein zum nächsten Skandal, wenn der VS am Ende gestärkt aus dem gewaltigen Desaster, das er selbst angerichtet hat, hervorginge. Ihm sollten schleunigst die nachrichtendienstlichen Mittel und Methoden entzogen werden – damit die Gesinnungskontrolle und das kriminelle V-Leute-Unwesen endlich ein Ende finden.” Eine Auflösung des geheimdienstlichen VS sei auch mit dem Grundgesetz vereinbar – die Verfassung schreibe keineswegs vor, dass die Behörde mit geheimdienstlichen Kompetenzen auszustatten sei.
Gescheiterte parlamentarische und gerichtliche Kontrollversuche

Der Freiburger Rechtsanwalt Udo Kauß (Humanistische Union) betrachtet sämtliche Versuche einer parlamentarischen wie datenschützerischen Kontrolle des Geheimdienstes als gescheitert. „Am verfassungsschützerischen System der Geheimhaltung, das dem Schutz der V-Leute und anderer Informationsquellen dient, scheitern regelmäßig Justiz, Parlamente und Datenschutzbeauftragte. Jene Behörde, die Verfassung und Demokratie schützen soll, erweist sich damit selbst als demokratische Gefahr, weil sie den Grundprinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit widerspricht.” Bezeichnenderweise wurde keiner der Geheimdienstskandale von den Kontrolleuren aufgedeckt. “Die Arbeit der parlamentarischen Kontrollgremien selbst bleibt im Geheimen. Konsequenzen muss der Dienst kaum fürchten – die Kontrolleure dürfen darüber in der Öffentlichkeit nicht reden.” Als Rechtsanwalt erlebe er immer wieder, wie Gerichtsverfahren, an denen der Verfassungsschutz beteiligt ist, zu Geheimverfahren mutieren. „All das widerspricht rechtsstaatlichen Grundsätzen und ist schlicht demokratiewidrig”, so Kauß. Auch wenn der VS jetzt mit verstärkter Öffentlichkeitsarbeit um mehr Vertrauen in der Bevölkerung werbe, gelte weiterhin: „Ein transparenter, effektiv kontrollierbarer Geheimdienst bleibt ein Widerspruch in sich.”

Dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors V. wieder und ist kein offizielles Statement des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung.

Die Ortsgruppe Berlin des Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung ist Teil des Berliner Bündnis für Versammlungsfreiheit, welches sich gegen die geplante anlasslose Videobeobachtung von Demonstrationen formiert hat. In diesem Zusammenhang möchten wir hier folgende Pressemitteilung des Bündnis zum aktuellen Änderungsvorschlag der Regierungskoalition dokumentieren:

Berliner Bündnis für Versammlungsfreiheit: Gesetzentwurf zu Übersichtsaufnahmen bleibt versammlungsfeindlich

Das Berliner Bündnis für Versammlungsfreiheit lehnt das Gesetz zur Ermöglichung von sogenannten Übersichtsaufnahmen bei Versammlungen auch mit den von der Koalition vorgeschlagenen Änderungen ab.

Der am Freitag (12.4.2013) dem Innenausschuss vorgelegte Änderungsantrag von SPD und CDU beinhaltet lediglich kosmetische Änderungen und soll bereits am kommenden Montag dort beschlossen werden; eine gründliche und sachliche Analyse wird so abgeschnitten.

An der Einschränkung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit durch die anlasslose Kameraüberwachung ändert sich auch durch den geänderten Gesetzesvorschlag nichts. Es bleibt bei dem Grundsatz, dass jede Demonstration allein deshalb gefilmt werden darf, weil sich an ihr eine Vielzahl von Menschen beteiligt. Dies stellt das Grundrecht gleichsam auf den Kopf, wenn gerade eine hohe Mobilisierung zur Begründung einer anlasslosen Videoüberwachung dienen soll.

Die Festlegung auf eine offene Durchführung der Videoüberwachung geht an den Realitäten vorbei, weil zum Beispiel Videokameras auf Hausdächern, im Hubschrauber oder bei Verwendung von Drohnen nicht erkennbar sind.

Die in dem Änderungsantrag vorgesehene Verpflichtung zur Bekanntgabe eines Kameraeinsatzes an die Versammlungsleitung bleibt weit hinter dem zurück, was die Rechtsprechung bei anderen Maßnahmen der Videoüberwachung fordert. Danach muss jedem von einer Videoüberwachung Betroffenen mitgeteilt werden, dass gefilmt wird.
Im Bereich der Versammlungsfreiheit ist diese Maßnahme indes grundsätzlich ein massiver Eingriff in dieses grundrechtlich geschützte Recht, das nicht durch eine bloße Mitteilung an den Versammlungsleiter ausgehebelt werden kann, zumal dieser nicht als „verlängerter Arm der Polizei“ deren Maßnahmen an die Versammlungsleiter kommunizieren muss. Hinzu kommt, dass nicht wenige Versammlungen keinen Versammlungsleiter haben.

Das vorgeschlagene Verbot, die Bilder zur Identifikation von Versammlungsteilnehmerinnen und -teilnehmern zu nutzen, ist wirkungslos. Es kann weder kontrolliert werden noch ist es technisch umsetzbar. Das Bundesverfassungsgericht und das Verwaltungsgericht Berlin haben festgestellt, dass beim heutigen Stand der Technik eine Individualisierung stets möglich ist. Bereits der Begriff der Übersichtsaufnahme ist daher irreführend. Aus diesem Grund wurde der Begriff „Übersichtsaufnahme“ am letzten Freitag (12.4.) mit dem Big Brother Award in der Kategorie „Neusprech“ ausgezeichnet.

Der Einschüchterungseffekt durch die Präsenz von Kameras bleibt in jedem Falle erhalten. Das Gesetz ist deshalb auch mit den Änderungen im Ergebnis ein Versammlungsverhinderungsgesetz, das den hohen Rang der durch Art. 8 GG geschützten Versammlungsfreiheit in verfassungsrechtlich nicht akzeptabler Weise verkennt.

Für Nachfragen: Anja Heinrich (Humanistische Union): 030 / 204 2504

Dokumente: Änderungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion der CDU zum Gesetzentwurf über Übersichtsaufnahmen zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen

Morgen soll der verfehlte Änderungsantrag im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses beraten und vermutlich dann auch direkt beschlossen werden. Die Ignoranz der Regierungskoalition gegenüber einem gesellschaftlichen Diskurs zu diesem Thema, hatte sich zuletzt bei einer Podiumsdiskussion des Bündnis gezeigt: Kein*e Regierungsvertreter*in konnte oder wollte daran teilnehmen. Das Gesetz ist daher auch Ausdruck einer obrigkeitsstaatlichen Überwachungskultur, die der Effizienz von Polizeieinsätzen sämtliche Grund- und Freiheitsrechte unterordnet.

Dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung von V. wieder und ist kein offizielles Statement des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung.