In Niedersachsen sind die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen abgeschlossen, gestern wurde der knapp 100seitige Koalitionsvertrag veröffentlicht.
Auf dessen Seiten 18ff. und 78ff. finden sich eine Reihe von interessanten innenpolitischen Aussagen bzw. Absichtsbekundungen, die eine klare Abkehr vom bisherigen, vorwiegend konservativen und obrigkeitsdenkenorientierten Regierungsstil von CDU und FDP deutlich machen sollen.
Lobenswert sind die relativ deutlichen Ansagen gegen Herstellung und Export von Soft- und Hardware zur Repression, die Absage an Landestrojaner bzw. behördliche Computerwanzen und die klaren Worte gegen einen Einsatz von Polizeidrohnen bei Demonstrationen und Veranstaltungen.
Aber nicht alle innenpolitischen Aussagen sind so eindeutig.
Drei Beispiele:
1. Zur Vorratsdatenspeicherung
„Die rot-grüne Koalition wird sich auf Europa- und Bundesebene, im Bundesrat und in der Innenministerkonferenz, gegen die derzeit diskutierten Varianten der Vorratsdatenspeicherung einsetzen. Sie hält dieses Verfahren für einen hochproblematischen Eingriff in die Grundrechte.“ (Seite 80)
- Was ist mit „derzeit diskutierte Varianten der Vorratsdatenspeicherung“ genau gemeint?
- Folgte die niedersächsische SPD der im Dezember 2011 zementierten Linie der Bundes-SPD, so würden wir mit einer vollständigen Speicherung aller TK-Verbindungsdaten und deren Speicherung für sieben Tage sowie mit einer 90tägigen Vorratsdatenspeicherung der besonders sensiblen IP-Daten konfrontiert werden.
- Warum schafften es Rot-Grün nicht, sich grundsätzlich gegen das Prinzip der Vorratsdatenspeicherung auszusprechen? Die Grünen haben so etwas vor der Wahl postuliert und selbst die sozialdemokratischen Jurist*innen, Richter*innen und Staatsanwält*innen bewerten jede Form der Vorratsdatenspeicherung als Paradigmenwechsel und lehnen diese ab. Hier soll es aber nur „gegen die derzeit diskutierten Varianten“ gehen?
- Es wäre schön, wenn sich die niedersächsische SPD an dieser Stelle ähnlich wie in der Gorleben-Standortfrage eine eigene durchdachte Meinung zulegen könnte und zu dieser stehen würde. (Wir stehen gerne zu Gesprächen und Diskussionen zur Verfügung!)
2. Zur Videoüberwachung
„Die rot-grüne Koalition wird die von der abgelösten Landesregierung ausgeweitete Videoüberwachung einschränken. Für die verbleibenden Überwachungsanlagen wird ein öffentlich einsehbares ‚Anlagenkataster‘ geschaffen. Anlasslose Überwachungen von Großveranstaltungen werden eingeschränkt. Jede Überwachung ist kenntlich zu machen.“ (Seite 18)
- Die Einführung eines Katasters wurde vom Forderungskatalog des AK Vorrat Hannover übernommen. Das freut uns. Aber scheint sich die Forderung der rot-grünen Koalition in Niedersachsen nur auf die Polizeikameras beziehen und damit begnügen zu wollen. Das wird an der gewählten Formulierung zumindest nicht ganz klar.
- Wir in Hannover (= AK Vorrat OG Hannover) fordern jedoch eine Melde- und Katasterpflicht nicht nur für die polizeilichen Videoüberwachungskameras sondern für jede Videoüberwachungsanlage!
- Ebenfalls unklar ist die Frage, nach welchen Vorgaben Videoüberwachung überhaupt zugelassen werden soll. Wie ist das mit den geheimnisumwitterten neuen hochauflösenden Kameras in den Fußballstadien, was ist mit privat betriebenen Kameras im öffentlichen bzw. allgemein öffentlich zugänglichen Raum?
- Und schließlich fordert der Koalitionsvertrag etwas, was schon jetzt eine Gesetzesgrundlage hat: die Kennzeichnung jeglicher Form von Videoüberwachung. Sehr viel wichtiger wären klare Regelungen inklusive Sanktionsmaßnahmen, um diese Kennzeichnung endlich vernünftig um- und durchzusetzen.
- Auch privat betriebene Videoüberwachungsanlagen gehören grundsätzlich abgebaut, wenn es nicht eine ganz konkrete, fallbezogene und mit Tatsachen untermauerte Begründung für jede einzelne Kamera gibt.
- Anlasslose Überwachungen müssen nicht nur „bei Großveranstaltungen eingeschränkt“ werden, anlasslose Überwachungen gehören grundsätzlich und in allen Zusammenhängen verboten!
- Der Einsatz von Videoüberwachungsanlagen muss zur Ausnahme und nicht zur Regel werden!
- Von alledem ist im Koalitionsvertrag nichts zu lesen.
3. Zur Versammlungsfreiheit
„Die rot-grüne Koalition wird das Demonstrationsrecht stärken. Ziel ist ein bürgerfreundliches Versammlungsrecht, das möglichst vielen Menschen Demonstrationen, Kundgebungen oder sonstige Versammlungen ermöglicht. Eingeschränkt werden sollen Datenabfragen bei Anmeldungen und Polizeiaufnahmen in geschlossenen Räumen. Das Vermummungsverbot soll schärfer eingegrenzt und der Datenschutz für Anmelderinnen und Anmelder sowie Ordnungskräfte verbessert werden. Die Bannmeilenregelung vor dem Niedersächsischen Landtag wird aufgehoben.“ (Seite 19)
- Es wird nicht klar, was die Koalition genau damit meint. In welcher Form soll das in Karlsruhe zur Prüfung vorliegende niedersächsische Versammlungsgesetz geändert werden?
- Ein Versammlungsrecht muss allen Menschen die Durchführung von und Teilnahme an freien, selbst entwickelten und staatsfernen Versammlungen ermöglichen und nicht nur „möglichst vielen“.
- Die kritisierten, derzeit gesetzlich verbrieften Rechte auf polizeiliche und geheimdienstliche Durchleuchtung von Anmeldern und Ordnern von Demonstrationen sollen offenbar nur bei geschlossenen Versammlungen entschärft werden, nicht aber bei Versammlungen unter freiem Himmel! Das ist schlecht.
- Rot-Grün schafft es nicht, das Vermummungsverbot grundsätzlich von der Straftat zur Ordnungswidrigkeit zu degradieren, obwohl es selbst in Polizeikreisen Verständnis für einen solchen Schritt geben würde. Stattdessen soll es „schärfer eingegrenzt“ werden. Also mehr Sonderregeln und Spezialfallbeschreibungen statt ein einfacheres, schlankeres und für „normale“ Menschen verständlicheres Gesetz zu besorgen – so scheint es jedenfalls.
- Der „befriedete Bezirk“ soll endlich abgeschafft werden. Das ist gut. Aber es ist gegenüber vielen anderen Problemen des niedersächsischen Versammlungsgesetzes ein kleineres Übel, wenn auch als populäre Maßnahme besser zu verkaufen.
- Rot-Grün täte gut daran, ein Ende der bundesweit voranschreitenden Zersplitterung des Versammlungsrechts zu fordern und dafür einzutreten. Doch davon leider kein Wort.
- Fragen wie die Erleichterung für Kleinversammlungen, die Entfernung von Spezialgesetzteilen (z.B. das Verbot von Demonstrationen an bestimmten Tagen oder Orten), Anfangsbedingungen für polizeiliche Bild- und Tonaufzeichnungen und zur kritischen Bewertung der polizeilichen Auflagenpraxis werden leider nicht gestellt.
Trotz aller Kritik:
Der Koalitionsvertrag strahlt ganz klar den Willen zu einem bürgerfreundlicheren Neuanfang in der niedersächsischen Landespolitik aus.
Ich wünsche viel Erfolg dabei!
Von Hannover aus werden wir das ganze kritisch und konstruktiv zu begleiten versuchen. :)
Dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung von Micha wieder und ist kein offizielles Statement des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung.
Bild: Eigenes Bild, CC-BY-SA