Am Dienstag wird vor dem Europäischen Gerichtshof darüber gestritten, ob die EU Informationen über jede unserer Telefon-, Handy-, E-Mail- und Internetverbindung speichern lassen darf – rein vorsorglich („auf Vorrat“) für den Fall, dass sich die Polizei einmal dafür interessieren könnte. Festgehalten werden soll, mit wem wir privat oder beruflich in Kontakt stehen, mit welchem „Nummernschild“ (IP-Adresse) wir im Internet unterwegs sind und an welchen Orten wir wann unser Handy oder Smartphone benutzt haben.
Viele Menschen (in Deutschland 66%) wollen nicht, dass ohne jeden Grund alle ihre Verbindungen und Bewegungen protokolliert werden. Deshalb haben sie bei Gericht beantragt, die Speicherung ihrer Daten zu stoppen. In Irland klagen Datenschützer der Organisation „Digital Rights Ireland“ gegen das irische Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung. Und in Österreich haben sich über 10.000 Menschen bei dem Verfassungsgerichtshof beschwert.
Vor ihrer Entscheidung wollen das irische und das österreichische Gericht wissen, ob sie den von der Europäischen Union angeordneten Zwang zur Vorratsdatenspeicherung akzeptieren müssen. Über die Gültigkeit und Verhältnismäßigkeit dieser EU-Richtlinie entscheidet nun der Europäische Gerichtshof.
Wie wird der Europäische Gerichtshof entscheiden?
Der Europäische Gerichtshof könnte entscheiden, dass die Aufzeichnung sämtlicher unserer Verbindungen erforderlich ist, um Verbrechen besser verfolgen zu können. Dann müsste auch Deutschland ein Gesetz zur verdachtslosen Vorratsspeicherung aller unserer Verbindungen wieder einführen – oder als Strafe jährlich 1,43 Euro pro Bürger bezahlen.
Wahrscheinlich wird der Gerichtshof die Datensammelei aber beanstanden. Er hat nämlich eine Menge Fragen dazu gestellt. Auch mehrere andere Gerichte (die Verfassungsgerichte Rumäniens, Deutschlands und Tschechiens) haben Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung schon aufgehoben.
Einige Gerichte finden, solange wir keines Verbrechens verdächtig sind, darf der Staat unsere Telefonate, SMS, E-Mails und Internetverbindungen nicht ins Blaue hinein protokollieren lassen. Datenschützer sind derselben Meinung. Sie befürchten sonst eine schrittweise immer weiter reichende Aufzeichnung unseres alltäglichen Verhaltens und Lebens „auf Vorrat“ – bis hin zu Videokameras in unseren Schlafzimmern, weil ja auch dort einmal Verbrechen begangen werden könnten. Unter ständiger Überwachung kann man nicht frei und unbefangen leben.
Das deutsche Bundesverfassungsgericht ist dagegen der Meinung, der Staat darf alle unsere Kontakte und Bewegungen ohne Verdacht sammeln lassen, wenn diese Informationen gut vor Missbrauch gesichert und nur in Ausnahmefällen eingesehen werden. Es hat das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung nur aufgehoben, weil es diese Bedingungen nicht erfüllte. Wenn der Europäische Gerichtshof das auch so sehen sollte, werden EU-Politiker schon bald darüber streiten, ob sie eine neue Richtlinie zur verdachtslosen Vorratsdatenspeicherung erlassen.
Wer wird am Dienstag mitreden?
Die folgenden Personen und Organisationen werden am Dienstag vor dem Europäischen Gerichtshof sprechen:
- Digital Rights Ireland: Die Datenschutzorganisation, die in Irland klagt (15 Minuten)
- Die irische Menschenrechtskommission (Human Rights Commission), die die Klage unterstützt (15 Minuten)
- Die Kärntner Landesregierung, die in Österreich klagt (15 Minuten)
- Der Anwalt von Herrn Seitlinger, der in Österreich klagt (15 Minuten)
- Herr Tschohl in Vertretung von über 11.100 klagenden Österreichern (15 Minuten)
- Die irische Regierung, die die Datenspeicherung verteidigt (15 Minuten)
- Die österreichische Regierung, die die Datenspeicherung verteidigt (15 Minuten)
- Die spanische Regierung, die die Datenspeicherung verteidigt (10 Minuten)
- Die französische Regierung, die die Datenspeicherung verteidigt (10 Minuten)
- Die italienische Regierung, die die Datenspeicherung verteidigt (10 Minuten)
- Die polnische Regierung, die die Datenspeicherung verteidigt (10 Minuten)
- Die portugiesische Regierung, die die Datenspeicherung verteidigt (10 Minuten)
- Die britische Regierung, die die Datenspeicherung verteidigt (10 Minuten)
- Der EU-Rat, der die Datenspeicherung verteidigt (15 Minuten)
- Das Europäische Parlament, das die Datenspeicherung verteidigt (15 Minuten)
- Die EU-Kommission, die die Datenspeicherung verteidigt (15 Minuten)
- Der Europäische Datenschutzbeauftragte Peter Hustinx, der die Datenspeicherung kritisiert (15 Minuten)
Ort und Zeit der Verhandlung finden sich hier.
Wo finde ich weitere Informationen?
- Die Fragen des obersten irischen Gerichtshofs und die Begründung dazu (Auszug: „Es ist klar, dass Überwachungsmaßnahmen gerechtfertigt sein müssen und in der Regel gezielt erfolgen sollten“)
- Die Fragen des österreichischen Verfassungsgerichtshofs und die Begründung dazu (Auszug: „Nicht zuletzt auch im Hinblick auf Zweifel an der Eignung zur Zielerreichung erscheint der damit verbundene Eingriff unverhältnismäßig.“)
- Die Fragen des Europäischen Gerichtshofs, auf die am Dienstag besprochen werden sollen
- Appell von über 100 Organisationen aus 23 europäischen Ländern zur Aufhebung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung
Dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors Patrick Breyer wieder und ist kein offizielles Statement des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung.
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