Passend zum Medienhype rund um den angeblichen versuchten Terroranschlag am Bonner Hauptbahnhof (siehe hier und hier) wurde Ende 2012 eine Umfrage von infratest dimap öffentlich, wonach sich 81% der Befragten für eine Ausweitung von Videoüberwachung ausgesprochen haben.
Ob es sich bei der angeblichen Bombe tatsächlich um einen Anschlagsversuch handelt ist genau so unklar wie die Frage, ob die bei dieser Umfrage antelefonierten Bürger überhaupt umfänglich Bescheid wussten, wozu sie da mal eben um Meinung gefragt wurden.
Sicher ist dagegen, dass sich die kernige Überschrift des Stern-Artikels „Umfrage: Deutsche wünschen sich mehr Videoüberwachung“ als Marker im kollektiven Unterbewußtsein eingraben hat: „Ach ja – da gab’s doch mal diese Umfrage, wonach sowieso schon alle für Überwachung sind. Na dann …“
Die britische Bürgerrechtsbewegung NoCCTV, die sich seit Jahren engagiert und kompetent gegen Videoüberwachung in Großbritannien einsetzt, hat vor etwa einem Monat einen lesenswerten Beitrag dazu geliefert, wie Politiker gezielt den Eindruck zu erwecken und einzuschleifen versuchen, als seien Überwachungsmaßnahmen inzwischen mehrheitlich akzeptiert und willkommen.
Anhand einer ausführlichen historischen und sachbezogenen Analyse zeigen die britischen Aktivisten, dass es sich dabei jedoch nur um einen Anschein handelt, den immer wieder zu erwecken und damit eine Scheinwirklichkeit zu erschaffen das Ziel des einen oder der anderen Überwachungsbefürworter sein dürfte.
Der ausführliche Text liegt nun in einer deutschen Übersetzung mit einer thematischen Einführung für „deutsche“ Leser*innen vor (hier als Webseite und hier als pdf-Dokument) – zur Anregung möchte ich einen darin enthaltenen Ausschnitt bezüglich eines Textes des Medienwissenschaftlers Neil Postman zitieren:
Neil Postmann, der Autor des Buches “Das Technopol”, hat sechs Fragen vorgeschlagen, die dem besseren Verständnis dafür dienen können, in welcher Art und Weise eine Technologie Einfluss über Gesellschaften ausübt. Solche Fragen sollten der Ausgangspunkt für jede Diskussion über Überwachungstechnologien sein:
1.) Was ist das Problem, für das diese Technologie die Lösung ist?
2.) Wessen Problem ist es?
3.) Welche neuen Probleme können bei der Lösung des Ausgangsproblems entstehen?
4.) Welche Menschen und welche Einrichtungen leiden durch die neue Technologie am stärksten?
5.) Welche Änderungen des Sprachgebrauchs wird durch diese Technologie erzwungen?
6.) Welche Menschengruppen und Einrichtungen profitieren durch die Einführung dieser neuen Technologie in ökonomischer oder politischer Hinsicht am allermeisten?
(Aus: Neil Postman, „Building a Bridge to the 18th Century“, 1999, Seite 42)
Das in dem Artikel erwähnte Buch „Das Technopol“ empfehle ich ebenso wie den Artikel selber zum Lesen.
Und weil dieser Beitrag mit dem Verweis auf eine Meinungsumfrage begonnen hat, hier nun ein Auszug aus ebendiesen Buch, in dem Neil Postman das Einholen und Vorführen von Meinungsumfragen im Rahmen seiner Terminologie als „unsichtbare Technologie“ bezeichnet und u.a. wie folgt dazu ausführt:
Man könnte nun argumentieren, die Erforschung der öffentlichen Meinung stelle die Demokratie auf eine vernünftige, wissenschaftliche Basis. Wenn unsere Politiker uns repräsentieren sollen, dann brauchen sie schließlich Informationen darüber, was wir »glauben« oder »denken«. Doch die Probleme liegen anderswo, und es sind ihrer wenigstens vier.
Das erste betrifft die Form der Fragen, die dem Publikum gestellt werden. Ich erinnere den Leser an das Problem, ob es zulässig sei, gleichzeitig zu rauchen und zu beten. Oder, um ein realistischeres Beispiel zu nehmen: Wenn wir Menschen die Frage stellen, ob sie es für akzeptabel halten, daß die Umwelt weiter verschmutzt werde, erhalten wir höchstwahrscheinlich ganz andere Antworten als auf die Frage: Sind Sie der Meinung, daß dem Umweltschutz vorrangige Bedeutung zukommt? Oder: Halten Sie die Sicherheit auf den Straßen für wichtiger als den Umweltschutz? Die »Meinung« der Öffentlichkeit dürfte in bezug auf die allermeisten Probleme ganz und gar abhängig sein von der Art, wie die Frage gestellt wird. (…)
Die Fragen, die Meinungsforscher stellen, zielen normalerweise auf eine Ja- oder Nein-Antwort. Muß man noch darauf hinweisen, daß in solchen Antworten kein allzu großer Spielraum für die sogenannte »öffentliche Meinung« bleibt? Wenn Sie zum Beispiel auf die Frage »Glauben Sie, das Drogenproblem lasse sich durch staatliche Programme eindämmen?« mit »Nein« antworten, dann wäre über Ihre Meinung wenig Interessantes oder Wertvolles zutage gekommen. Würde man es Ihnen aber ermöglichen, ausführlicher über diese Frage zu sprechen oder zu schreiben, so wäre der Einsatz der Statistik ausgeschlossen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, daß die Verwendung der Statistik in der Meinungsforschung die Bedeutung des Begriffs »öffentliche Meinung« genauso dramatisch verändert, wie das Fernsehen die Bedeutung von »öffentlicher Debatte« verändert. Unter dem amerikanischen Technopol ist die öffentliche Meinung eine Ja- oder Nein-Antwort auf eine ungeprüfte Frage.
Zweitens: die Verfahren der Meinungsforschung propagieren die Vorstellung, eine Meinung sei ein Ding im Innern des Menschen, das durch die Fragen des Meinungsforschers lokalisiert und zutage gefördert werden könne. Aber es gibt dazu auch eine ganz andere Ansicht, und Jefferson gehörte zu denen, die sie vertraten. Eine Meinung ist kein momentanes Ding, sondern ein Denkvorgang, der durch den ständigen Erwerb von Wissen, durch ständiges Fragen, Diskutieren und Debattieren geformt wird. Eine Frage kann eine Antwort »nahelegen«, sie kann eine Antwort aber auch modifizieren und neu formen; es wäre eigentlich richtiger, zu sagen, daß Menschen Meinungen nicht einfach »haben«, sondern in einem ständigen Prozeß des »Meinens« oder der »Meinungsbildung« begriffen sind. Die Meinung als meßbares Ding aufzufassen, verfälscht den Prozeß, in dem sich die Menschen ihre Meinung tatsächlich bilden, und dieser Prozeß steht in engster Beziehung zu dem, was den Kern einer demokratischen Gesellschaft ausmacht. Die Meinungsforschung sagt uns hierüber nichts und neigt dazu, diesen Vorgang unserem Blick zu entziehen.
Womit wir beim dritten Punkt wären. Meinungsumfragen ignorieren in der Regel, was die Menschen über die Themen, zu denen sie befragt werden, eigentlich wissen. In einer Kultur, die nicht von dem zwanghaften Bedürfnis besessen ist, alles zu messen und Rangfolgen herzustellen, würde eine solche Blindstelle wahrscheinlich höchst sonderbar erscheinen. Aber überlegen wir doch einmal, was wir von Meinungsumfragen halten würden, wenn stets zwei Fragen gestellt würden, eine, die ermittelt, was die Menschen »meinen«, und eine, die ermittelt, was sie über das jeweilige Thema »wissen«. Unter Verwendung von ein paar fiktiven Zahlen könnte dabei etwa folgendes herauskommen: »Die jüngste Umfrage ergibt, daß 72 Prozent der Amerikaner der Meinung sind, wir sollten Nicaragua die Wirtschaftshilfe entziehen. Von denen, die diese Meinung vertraten, glaubten 28 Prozent, Nicaragua liege in Mittelasien, 18 Prozent glaubten, es sei eine Insel in der Nähe von Neuseeland, und 27,4 Prozent vertraten die Ansicht, >die Afrikaner sollen selbst sehen, wie sie zurechtkommen<, wobei sie offensichtlich Nicaragua mit Nigeria verwechselten. Darüber hinaus wußten 61,8 Prozent der Befragten nicht, daß Amerika überhaupt Wirtschaftshilfe für Nicaragua bereitstellt, und 23 Prozent wußten nicht, was >Wirtschaftshilfe< bedeutet.« Wären Meinungsforscher bereit, uns solche Informationen mitzuliefern, so würden das Ansehen und der Einfluß der Meinungsforschung darunter gewiß erheblich leiden. Vielleicht würden angesichts von derart geballter Unwissenheit sogar Kongreßabgeordnete dem eigenen Verstand wieder mehr trauen.
Das vierte Problem im Zusammenhang mit der Meinungsforschung besteht darin, daß sie zu einer Verschiebung der Verantwortung zwischen den Politikern und ihren Wählern führt. Gewiß sollen Kongreßabgeordnete die Interessen ihrer Wähler so gut wie eben möglich verfechten. Aber ebenso gewiß ist, daß Kongreßabgeordnete ihre eigene Urteilskraft nutzen sollen, um herauszufinden, worin diese Interessen bestehen. Hierzu müssen sie sich an ihre eigenen Erfahrungen und ihr eigenes Wissen halten. Vor dem Aufkommen der Meinungsforschung wurden Politiker, denen die Meinungen ihrer Wähler auch damals nicht gleichgültig waren, im wesentlichen nach ihrer Fähigkeit beurteilt, Entscheidungen auf der Grundlage dessen zu treffen, was ihnen an Weisheit zur Verfügung stand; mit anderen Worten, diese Politiker waren verantwortlich für ihre Entscheidungen. Mit der Verfeinerung und Ausweitung der Meinungsumfragen geraten sie immer mehr unter den Druck, auf eigenverantwortliche Entscheidungen zu verzichten und sich statt dessen den Meinungen ihrer Wähler zu fügen, gleichgültig, wie uninformiert oder kurzsichtig diese Meinungen sind.
(Aus: Neil Postman, „Das Technopol“, 1991, Seiten 144-147)
Weitere Informationen
- Die Homepage von NoCCTV
- Der englischsprachige Original-Beitrag: The Manufacture of ‚Surveillance by Consent‘
- Deutsche Übersetzung inklusive Einführung zum Thema (alternativ als pdf-Datei)
Dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung von Micha wieder und ist kein offizielles Statement des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung.
Diese Aussage steht meines Erachtens im Widerspruch des Leitbildes des mündigen Bürgers. Ich würde argumentativ anders vorgehen.