Das Baukastenprinzip, also der Ansatz bei der Lösung von Problemen auf standardisierte und/oder bewährte Bauteile bzw. Methoden zurückzugreifen, ist allgemein ein Erfolgsmodell. Vom Software-Entwurfsmuster bis hin zu eher nebulösen „Best-Practice“-Versprechung in der Beratung wird nahezu überall auf die Nutzung dieser zusammengetragenen Erfahrungswerte gesetzt – je nach Problemstellung mal mit mehr, mal mit weniger Sinn und Erfolg.
Auch die Apologeten und Apologetinnen neuer Überwachungsgesetze nutzen mittlerweile dieses Prinzip. Im schnelllebigen und oft auf polarisierende Aussagen verkürzten Politikgeschäft hilft es schließlich ungemein, einige „Standard“-Argumente parat zu haben, wenn es mal wieder kritische Nachfragen zur Vorratsdatenspeicherung, Netzsperren oder ähnlichen „Zukunftstechnologien“ geht.
Beim Aufbau unserer kleinen Zitatesammlung sind uns einige Exemplare dieser „Argumentationsentwurfsmuster“ über den Weg respektive den Bildschirm gelaufen, die wir hier nun in der losen Serie „Bau Dir Deine Meinung! Eine Anleitung zum Populismus“ vorstellen wollen. Dazu sei gesagt, dass diese Baukasten-Argumente nicht originär im Feld der Netzpolitik entstanden sind und auch darüber hinaus ihre Verwendung finden. Aus verstänndlichen Gründen werden wir uns jedoch auf genau dieses Feld beschränken.
Nach Katastrophen oder Anschlägen steht oftmals die Frage im Raum, wie sich solche Ereignisse in Zukunft verhindern lassen bzw. ob im Vorfeld genug zu ihrer Vermeidung getan wurde. Das kann besonnen und rational geschehen, bietet aber auch die Möglichkeit, die politische Konkurrenz durch Aktionismus zumindest hinsichtlich der medialen Präsenz zu überholen. In diesem Zusammenhang drängt sich der Einsatz des Bausteins „Ohne XY wäre das nicht passiert“ geradezu auf. Das beweist Kompetenz und Weitsicht, schließlich hat man ja schon immer gesagt, dass XY notwendig wäre (oder behauptet dies zumindest). Eine mögliche „Schuld“ an den Ereignissen kann darüber hinaus mehr oder weniger explizit denen zugeschoben werden, welche die Einführung von XY be-/verhindert haben. Alternativ kann damit immerhin eine mögliche Verantwortung von sich selbst abgewendet werden, denn das XY hatte man ja nicht zur Verfügung.
Dabei gilt immer: XY ist alternativlos und universell anwendbar. Die offensichtliche und aus unserer Sicht unerträgliche Instrumentalisierung der Opfer für die eigenen politischen Ziele kann dabei bewusst in Kauf genommen werden, diesbezügliche Kritik findet im Gegensatz zu den provokanten Thesen wenn überhaupt als nachgelagerte Randnotiz Beachtung.
Besonders gut einsetzbar ist dieses Prinzip bei Sicherheitsgesetzen, welche wieder zurückgenommen wurden, z.B. aufgrund verfassungsrechtlicher Mängel. Hier mal illustriert am Beispiel der Vorratsdatenspeicherung:
„Im Vorfeld muss die Überwachung von Internetverkehr und Telefongesprächen möglich sein. Wir brauchen die Vorratsdatenspeicherung. … Nur wenn die Ermittler die Kommunikation bei der Planung von Anschlägen verfolgen können, können sie solche Taten vereiteln und Menschen schützen. Alle Sicherheitsexperten sind dieser Meinung, mit Ausnahme der Bundesjustizministerin.“
Hans-Peter Uhl, Innenexperte der CSU, nach den Attentaten durch Anders Breivik in Norwegen
Eine mustergültige Umsetzung mit direkter Schuldzuweisung an den politischen Gegner. Wie Herr Uhl einen vorab recht unauffälligen Einzeltäter mittels Vorratsdaten ausfindig machen will, bleibt ebenso sein Geheimnis, wie die Erklärung, wen er außer sich selbst zum Kreis „alle Sicherheitsexperten“ zählt.
„Wir können die Gefahr nicht beurteilen, wenn wir nicht wissen: Wer hatte mit wem Kontakt.“
Jörg Ziercke, Präsident des Bundeskriminalamtes, forderte nach der Aufdeckung der Mordserie der neonazistischen Terrorgruppe NSU so die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung
Ebenfalls eine lupenreine Anwendung, dieses Mal mit der kategorischen Zurückweisung von eigener Verantwortung. Da die Ermittler_innen einen rechte Motivation als Motiv für die Morde von vorneherein ausgeschlossen haben, ist schwer ersichtlich, wie Daten aus der Vorratsdatenspeicherung hier weitergeholfen hätten. Denn auch diese sind zu analysieren – wenn sie denn überhaupt vorgeliegen. Ein Überdenken des Ansatzes, „Nazi-BAföG“ zu zahlen, wäre aus unserer Sicht jedenfalls naheliegender, als die vollständige, verdachtsunabhängige Überwachung von Verbindungsdaten zu fordern. Allerdings wäre das auch nicht so einfach.
Einen besonderen Augenmerk sollte man bei der Anwendung auf die Art des Verbrechens legen, welches ohne XY auf keinen Fall verhindert/unterbunden/aufgeklärt werden könnte. Da muss schon was Öffentlichkeitswirksames ran.
„Ohne die Verbindungsdaten kann nicht nur die Verbreitung dieser schrecklichen Bilder und Videos nicht unterbunden werden. Vielmehr kann der dahinter stehende schwere sexuelle Kindesmissbrauch nicht ermittelt und das Leiden der Opfer nicht gestoppt werden“.
Ralf Jäger, Innenminister von NRW
Gut, wenn man in Betracht zieht, dass schwere Delikte wie Kinderpornografie oder Terrorrismus weit unter 1% der Anlässe für die Telekommunikationsüberwachung ausmachen, mag das vielleicht etwas populistisch wirken. Aber 1. darum geht es ja! und 2. Drogenhandel hat halt nicht so viel Zugkraft…
Oft kommt auch eine Abwandlung dieses Musters zur Anwendung, bei dem als Grund für die Aufklärung oder Verhinderung einer Straftat die XY (hier: die Vorratsdatenspeicherung) herangezogen wird. Wichtig ist dabei, dass die Natur der Straftat, des Täters oder der tatsächlichen Aufklärungsmethode völlig irrelevant ist.
„Dass die norwegischen Sicherheitsbehörden relativ schnell die bange Frage beantworten konnten, ob der Attentäter ein Einzelgänger oder mit anderen Gruppen vernetzt oder Teil einer Organisation war und ob weitere Anschläge zu befürchten seien, war möglicherweise der Vorratsdatenspeicherung zu verdanken, […].“
Bernhard Witthaut, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, nach den Attentaten durch Anders Breivik in Norwegen
Der zielführende Gedanke: Da die Vorratsdatenspeicherung zu keinerlei Ergebnis geführt hat, muss es sich um einen Einzeltäter handeln. Ob die Überwachung der Verbindungsdaten bei Einzeltätern, die sich ja hauptsächlich dadurch von anderen Tätertypen absetzen, dass sie eben nicht mit anderen über ihr Vorhaben kommunizieren, wirklich Sinn macht, kann jedoch, wie bereits erwähnt, stark bezweifelt werden. Nichts desto trotz: Wäre doch zu schade, wenn die Vorratsdatenspeicherung nicht die allheilbringende Lösung für die Verbrechensbekämpfung wäre.
Zusammenfassend lässt sich also sagen:
Um eine einfach verständliche und schwer zu kritisierende (zumindest in einem Antwortsatz) Begründung für die Vorratsdatenspeicherung zusammenzubauen, nehme man:
– Eine beliebige Straftat (bitte aber etwas gruseliges wie Terrorismus oder Kinderpornographie!)
– Den Vorwurf, dass dies ohne Vorratsdatenspeicherung nicht passiert wäre (bloß nicht begründen!)
Man mische dies mit einer Prise von diffusem Angstgefühl und kruder Verdrehung von Tatsachen und voila: Fertig ist die lupenreine, ja fast schon zwingende Begründung für die Notwendigkeit der Vorratsdatenspeicherung. Jetzt noch mit angemessener Empörung vortragen und es kann nichts mehr schief gehen!
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